Eine Gemeinde wurde von einem beachtlichen Teil ihrer Mitglieder verlassen. Auch langjährige Prediger und treue Mitarbeiter waren darunter. Die Reaktion des Gemeindeleiters hat mich verwundert. Sie bot natürlich eine bequeme Erklärung. Sie lief darauf hinaus, dass es eigentlich nur “dumme Schafe” sein könnten, die gegangen sind. Gute, d.h. geistliche Schafe, würden natürlich die “satte Weide” die man ihnen böte, recht schätzen. Natürlich fiel nicht wortwörtlich diese Illustration, aber Ausdrücke, die sich aus dieser ableiten lassen.in Etwa “Man könne zwar nicht in die Seele der Einzelnen blicken, aber es wäre doch klar, warum X oder Y gegangen ist: Die andere Gemeinde biete Freiheiten, die wir nicht haben, es ist also mindestens Weltliebe, auf jeden Fall untreue Torheit gegangen”.
Was ich hier schildere ist keinesfalls eine Übertreibung. Ich habe diese Position mehrfach von mehreren Gemeindeverantwortlichen dieser Gemeinde vernommen. Diese tiefe Überzeugung, dass die Fehler nur bei der anderen Seite liegen überraschte mich, schockierte mich.
Ich musste darüber nachdenken, woher diese Geringschätzung der eigenen Herde eigentlich kommt? Sind eigentlich nicht die Hirten für die “Intelligenz” ihrer Herde verantwortlich? Einst beschwerte sich ein sog. “Lehrer” sehr lautstark über seine eigen Gemeinde – (er war mehr als 40 Jahre aktiv in (oder an?) dieser tätig). Ich konnte nicht widerstehen zu fragen, wer diese Gemeinde die letzten Jahrzehnte denn gelehrt hätte. Wie so häufig in solchen Fällen, konzentrierte sich das darauffolgende Gespräch auf die Ästhetik meiner Frage (“Was fehlt dir ein…”, “Doppelte Ehre…”,”Du bist vorbelastet…”) nicht auf den Inhalt derselben.
Macht euch keine Sorgen, ich möchte mit keinem Pastor abrechnen und denke auch nicht an meine gegenwärtigen Pastoren, die ich in vielerlei Hinsicht für vorbildlich halte. Wer also einen Skandalartikel erwartet, wird enttäuscht. Dennoch begegnen mir doch regelmäßig Pastoren, Pfarrer, Priester, whatever mit diesem Mindset, dass sie eigentlich nur “von dummen Schafen” umgeben sind. Sie meinen, sie wären so viel bessere Lehrer, wenn sie doch bloß schlaue Schafe hätten. Ich erinnere mich an eine Presbyterianische Gemeinde, deren Gemeinde-Newsletter ich eine Zeitlang abonniert habe, da ich am Fortschreiten dieser Gemeinde ernsthaft interessiert war. Aber die Newsletter machte mich geradezu depressiv. Seitenweise berichtete der Pastor über sich, sein Werk, seinen Dienst. Als die ersten Taufen in der Gemeinde durchgeführt wurden, wurde darüber nicht eine Zeile verloren, aber absatzweise wurde über die eigenen Podcast-Pläne, Dienstreisen usw.. gesprochen. Ich konnte nicht widerstehen, diesen Pastor zwei Dinge zu fragen: a) Warum er seinen “privaten Dienst-Newsletter” als Gemeinde-Newsletter bezeichnet und b) Warum er eigentlich, wenn Gemeindeleben das ist, was sein Dienst ist, er nicht die logische Schlussfolgerung zieht in die katholische Kirche zu wechseln, die so etwas ja schon viel länger praktiziert: Der Priester ist alles, der Laie völlig abhängig.
Die Antwort war eine dieser üblichen Standard-Antworten, die aber klar erkennen ließ, dass ich so etwas nur fragen könne, weil ich ebenfalls ein dummes Schaf bin.
Man sollte eine These nicht deswegen verwerfen, weil sie einem unbequem oder beleidigend erscheint. Ich denke, man sollte die Möglichkeit erwägen, dass ein wahrhaft frommer Pastor wirklich nur von dummen Määäähs umgeben ist. Was wäre also, wenn der Presbyter genauso recht hätte, wie die zu Beginn des Artikels genannte Gemeindeleitung? Alles bloß dumme Schafe?
Es würde etwas gravierendes fehlen: Die Fürsorge des Hirten. Muss ein Hirte eher die gesunden, taffen Schafe pflegen oder die kranken, blöden, schwachen? Die “Hirten-Verantwortung” ist nicht dadurch abgetan, dass man seine Schäfchen für blöd erklärt. Müsste man nicht daran interessiert sein, aus dummen Schafen schlaue Schafe zu formen. Es sei den man neigt zu der Annahme, dass Christen die nicht “ordiniert” sind, gar nicht anders können, als dumm, unfähig, ungeistlich, verweltlicht zu sein. Doch was für ein Determinismus wäre das?
In Hesekiel 34 geht Gott nicht mit den schlechten Schafen, sondern mit den schlechten Hirten ins Gericht (und erklärt, wie man es zu machen hat) “Menschensohn, weissage über die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen, den Hirten: So spricht der Herr, HERR: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden?” (…)
Das Verlorene will ich suchen und das Versprengte zurückbringen, und das Gebrochene will ich verbinden, und das Kranke will ich stärken; das Fette aber und das Starke werde ich austilgen; mit meinem Recht werde ich sie weiden.” (Ezechiel 34,2,16) Dumme Schafe entbinden den Hirten nicht von seiner Fürsorge.
Somit, angenommen es stimmt, dass alle Schafe die dich umgeben, richtig töricht sind, was unternimmst du, dass sich diese Situation ändert? Übrigens merke ich, dass diese “alle sind blöd” Mentalität gar nicht bloß ein Pastoren Problem ist. Ich beobachte es auch in meinem Leben. Es sind die Momente, an denen man sich am liebsten von den anderen zurückziehen möchte. Die Bereitschaft dem Nächsten zu begegnen sinkt, da er einfach “blöd” ist. Jesu Worte sind hier eine ernste Mahnung: “Ich aber sage euch, dass jeder, der seinem Bruder zürnt, dem Gericht verfallen sein wird; wer aber zu seinem Bruder sagt: Raka!, dem Hohen Rat verfallen sein wird; wer aber sagt: Du Narr!, der Hölle des Feuers verfallen sein wird.” (Matthäus 5,22). Ob einfaches Kirchenmitglied oder Pastor, wir besitzen diese Option überhaupt nicht, auf unseren Nächsten niederzuschauen. Da haben wir schon den Aufruf zum Dienen verlassen, wenn wir Herren sein wollen. Was ist mit dem Aufruf, dem Anderen in Ehrerbietung zuvorzukommen und ihn höher zu achten als sich selbst? (Röm. 9,10; vgl. Phil. 2.3).
Mir scheint genau das das Problem von Christen zu sein, die unruhig von Gemeinde zu Gemeinde pilgern. Hier ist keine Herde ausreichend gut genug. Nur dumme Schafe?
Ich hoffe jedoch, ein weiteres Argument vorbringen zu können, dass uns helfen kann, diese Geringschätzung unserer Brüder und Schwestern zu überwinden. Es ist durchaus so, dass das Bild der Schafe verwendet wird, um gewisse Aspekte der Gemeinde Christi zu illustrieren, die auf Schwäche, Neigung zu Irrtümern, Schutzbedürftigkeit hinweisen. Das Gleichnis vom verlorenen Schaf spricht hier die gleiche Sprache wie der bekannte Vers: “Wir alle irrten umher wie Schafe, wir wandten uns jeder auf seinen eigenen Weg;” (Jesaja 53,6,). Aber man darf nicht so tun, als wäre es das einzige oder ein besonders privilegiertes Bild der Gemeinde. Die Gemeinde ist auch der Lieb Christi, hier benötigt ein Glied das andere. Das Auge darf zum Ohr nicht sagen, dass es dieses nicht braucht (1 Kor. 12,14ff). Die Gemeinde ist ein lebendiger Bau, ein Bild von Festigkeit und Nützlichkeit, das hier verwendet wird. Jemand in Christo, ist auch eine neue Kreatur, Geringschätzung dieser Neuschöpfung ist nicht angebracht. Wir dürfen eher “Gutes erwarten” so wie bei der ersten Schöpfung. Die Gemeinde ist auch der Tempel Christi, ein Ort in erster Linie für Gottesgemeinschaft und Anbetung nicht für Erziehung und Ermahnung. Die Gemeinde hat den Geist Gottes und wir dürfen sie nicht einfach so verachten, nur weil sie uns dumm erscheint.
Seht ihr was passiert: Eine Hochachtung vor der Gemeinde ist die beste Gegenmedizin davor, seine Mitschafe für blöd zu halten. Genau das würde ich am liebsten der Kirchenleitung sagen, die ich ganz zu Beginn erwähnt habe: Ihr redet nur deswegen so geringschätzig von euren (ehemaligen) Schafen, weil ihr zu gering von der Gemeinde Gottes denkt. Doch ich denke diese Kritik würden sie mir wahrlich nicht abnehmen.