“Denn ich habe mich von Jugend auf gehalten wie ein Vater, und von meiner Mutter Leib an habe ich gerne getröstet.” (Ijob 31,18 – Luther 1912)
Mir ist in der Vorbereitung aufgefallen, dass der obige Vers in der Elberfelder (2006) und der Luther(2017) – Übersetzung mit einem anderen Schwerpunkt wiedergegeben wird, nämlich in Bezug auf das Verhalten Hiobs auf die Waise aus Hi. 31,17. Diese Übersetzungen scheinen das Hebräische besser und zuverlässiger wiederzugeben, geprägt hat mich aber die ’12er-Fassung: „Ich habe mich von Jugend auf gehalten wie ein Vater“. Der Kontext von Ijob 31 rechtfertigt insgesamt auch diese Deutung. Denn Hiob zeigt, dass er immer danach trachtete, ein Mensch zu werden, der Verantwortung und Fürsorge übernahm.
Hiob spricht so auch über sein Verhalten gegenüber Knechten und Mägden (V. 12), gegenüber Armen ( V. 16), gegenüber Waisen (V. 17-21), gegenüber Feinden (V. 29-30) und Fremdlingen (V. 31-32). Er war hier immer der Geber und nicht Nehmer (oder jemand, der die Situation seines schwächeren Gegenübers ausgenutzt hat). Wenn auch die Art Hiobs in diesem Kapitel etwas irritieren mag (Ich habe mich immer gefragt, ob diese Irritation vom Alter des Textes oder vom Charakter Hiobs stammt), steht Hiob vor uns wie ein reifer Mann, der nach dem Prinzip Christi lebt: eben ist seliger als Nehmen! (Apg. 20,35).
Das Leben fängt für uns zunächst in völliger Abhängigkeit und voller Bedürfnisse an, die andere stillen müssen. Das Baby ist total abhängig davon, dass es versorgt wird. Mit zunehmenden Alter nehmen selbstständige Schritte zu, nicht notwendigerweise aber eine Änderung dieses Selbstbewusstseins, dass die „Anderen dafür da sind, mir meine Wünsche zu erfüllen“. Ich glaube, dass es ein Maß für Reife ist, wenn wir aus „Netto-Empfängern“ „Netto-Zahler“ werden. Es ist ein Ideal, das Jesus als erstrebenswert gezeichnet hat, und uns auch vorgelebt hat: “Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.” (Markus 10,45)
Als Halbzeitanalyse kann ich mit euch teilen, dass es mir immer verdächtig ist, wenn Menschen diesen Sprung vom Nehmen zum Geben nicht hinbekommen bzw. hinbekommen wollen. Das fängt damit an, dass man trotz dem Eintritt in das Eheleben sich weiterhin ohne jedes Maß von den eigenen Eltern bedienen lässt und endet mit einer bewussten Abhängigkeit von staatlichen Sozialleistungen. Eine ganze Menge Menschen sind immer nur Gäste, obwohl sie ein wunderbares Wohnzimmer besitzen, um Gastgeber zu sein. So ein Verhalten zementiert sich, und die Mentalität dass der andere mir zu dienen habe, kann zu einer solchen Selbstständigkeit werden, dass die Menschen geradezu vollständig verbittern, wenn ihnen diese Dienstbarkeit nicht entgegengebracht wird. Hiermit schildere ich alles andere als seltene Sonderfälle!
Mit diesem Artikel verdamme ich weder die Bedürftigkeit noch das „Nehmen“. Gerade durch die Geburt unserer jüngsten Tochter müssen wir als Familie das Empfangen von Hilfe durch Gemeinde und Pflegedienste neu lernen. Und das ist gar nicht so einfach! Dennoch sollte die Grundeinstellung eines Christen niemals diese sein: Wo kann ich noch etwas abgreifen? Der Christlichere Weg ist es, zu fragen: Wo kann ich noch etwas geben? Ich glaube wir werden lernen, bessere „Nehmer“ zu werden, wenn wir anfangen freier und kompromissloser zu geben. So zumindest verstehe ich Paulus, der in seiner Bedürftigkeit sehr überschwänglich den Philippern für ihre Unterstützung dankt (Phil. 4,10-20) und doch einige Zeit davor die Korinther daran erinnerte, dass sie deswegen reich sind, weil sie sich als Apostel arm gemacht haben (1 Kor. 4,10). Paulus, ein bedürftiger Geber!
Damit möchte ich auch nicht sagen, dass ich hier dem Sinne Christi völlig nachkomme. Es ist schlicht mein Wunsch dieses gute Ideal vor meinen und euren Augen aufs Neue zu zeichnen: Geben ist seliger als Nehmen! Das Neue Testament zeigt uns auf, dass andere reich zu machen, uns nicht arm machen wird: Durch Christi Armut wurde die Gemeinde „in allen Stücken reich gemacht“ (1. Kor. 1,5).
Ich habe mir zunächst überlegt, diesen Artikel mit einer Frage zu beenden, in etwa mit so einer: „Wo kannst du etwas dem Nächsten geben“? Aber da ist mir klar geworden, wie gefährlich so eine Frage ist. Denn gebe ich nur deswegen, weil ich „gesehen und anerkannt werden möchte“, „so habe ich meinen Lohn bereits dahin“. Ich glaube wir haben schon die dienende Mentalität des Gebens verlassen, wenn wir mit der Mentalität geben, dass wir den Bedürftigen benötigen, um zu zeigen, wie großzügig wir sind. Und diese Überlegung wiederum macht diesen ganzen Artikel zu einer gefährlichen Sache. Echt bedingungsloses Geben finden wir nur im Werke Christi!