In der Artikelserie „Halbzeitanalyse berichte ich über Blicke in die Vergangenheit wie in die Zukunft von der Mitte des Lebens her. Dabei möchte ich Fehlentwicklungen genauso zugeben, wie Gute Wege weiterhin beschreiten. Bisher erschienen sind:
- Keep the Fire Burning – Wie das Feuer für Christus weiter brennen kann.
- Gewohntes Lesen
- Vom Nehmen zum Geben.
Der heutige Text ist vielleicht der persönlichste: Denn je länger mein Hochzeitstag zurückliegt, desto klarer wird mir, wie prägend er für meine theologische Entwicklung war.
Im Sommer 2009 lernte ich meine Frau kennen. Es war wohl das, was man Liebe auf den ersten Blick nennt. Am 17. August machte ich ihr einen Heiratsantrag, den sie bejahte. Ihre Familie nahm mich herzlich auf, meine Mutter jedoch reagierte mit Ablehnung – meine Wahl entsprach nicht ihren Vorstellungen.
Unsere Hochzeitspläne zielten auf Frühjahr/Sommer 2010. Doch dann wurden wir im Oktober von der Tochter des Pastors bei einem Spaziergang gesehen. Kurz darauf zitierte mich der Pastor meiner damaligen Gemeinde zu sich. Eine „Freundschaft“ (bzw. das „Spazierengehen“) sei nicht erlaubt. Die Verlobungszeit dürfe maximal zwei Monate betragen. Da Weihnachten bevorstand, wurde uns ein Ultimatum gesetzt: Hochzeit am 12.12.2009 – oder Gemeindeausschluss.
Meine Frau stammte aus einer anderen Gemeinde, in der solch strikte Regeln unbekannt waren. Ironischerweise bekam der Sohn des Pastors später drei Monate Verlobungszeit, weil seine Verlobte aus einer anderen Gemeinde kam. Eine Konsequenz, die für uns gegolten hatte, galt für ihn nicht.
Mein Artikel ist kein Plädoyer für lange Verlobungszeiten, wir haben einerseits unwesentlich unter dem zeitlichen Druck gelitten, und Gott führte es so, dass das meiste in dieser super kurzen Zeit organisiert werden konnte. Wenn es auch bedeutet hat, dass wir letztlich auch das meiste vom Hochzeitsgeld schon für die Unkosten der Hochzeit ausgeben mussten. Ich finde es ist auch eine Leistung auf die man zurückschauen kann, wenn man sagt, ich weiß wie man in 6 Wochen heiratet. In 15 Jahren Ehe haben wir einige Sachen erlebt, die man unfassbar schnell organisieren musste, und dann haben wir oft an unsere Verlobungszeit gedacht.
Dennoch bleibt die Verletzung: Der ungleiche Maßstab, mit dem der Pastor seinen Sohn behandelte. Gerne würde ich mit ihm darüber sprechen – er war lange ein guter Freund. Doch ich bezweifle, dass er verstehen würde, war doch sein Vater für ihn nahezu unfehlbar.
Ich muss auch sagen, dass war der einzige Fehler, dem ich meinem damaligen Pastor ankreiden könnte, das Hochzeitsvorbereitungsgespräch mit ihm war tadellos, seine Predigt an der Hochzeit ganz solide, für Fragen stand er immer zur Verfügung. Nun muss man wissen, dass unsere Hochzeit aus logistischen Gründen in der Gemeinde meiner Frau stattfand. Hier lachte man über Gepflogenheiten wie 2 Monate Verlobungszeit. Aber der Pastor dieser Gemeinde sagte dann, als wir ihm von der Pistole an der Brust: „Sechs Wochen oder Ausschluss“ erzählten, dass das völlig normal sei, auch in seiner Gemeinde praktiziere man höchstens 3 Monate Verlobungszeit. Ich frage mich bis heute, warum er sich nicht geschämt hat so zu lügen. Leider ging auch das Hochzeitsvorbereitungsgespräch gänzlich aus dem Ruder. Sein wichtigesten Anliegen waren potentielle Hochzeitsbesucher meinerseits. Das könnten in seinen Augen nur Ungläubige sein, die nicht geeignet angezogen zum Gottesdienst erscheinen würden und Ihre, ich zitiere „Lederbrüste“ präsentieren werden. Dieser Begriff schien den Pastor zu fesseln und er verwendete ihn im einstündigen Gespräch noch viele Male. Ich konnte später nie ausfindig machen, ober ein tiefergehendes sexuelles Problem hatte.
Es tut unfassbar gut, diese Dinge einmal schriftlich festzuhalten. Ich habe gerade erst einem Freund erzählt, dass ich diesen Blog auch als „Erbstück“ für meine Kinder führe und ich hoffe, dass sie diesen Artikel lesen und ein bisschen „andere Welt“ schmecken können.
Dennoch kann ich bis heute gut verstehen, dass man für solche Traditionen Gehorsam einfordert. Nicht so ganz kann ich verstehen, warum man die ganze Zeit vermeintlichen Ungehorsam beklagte, obwohl man versucht hat, mit aller Kraft eben den Erwartungen zu entsprechen. Rückblickend fühlt sich das noch viel bizarrer an, als in der damals durchmachten Zeit. Wie gesagt 6 Wochen. Aber was ich vor allem nicht verstehen kann, wie sich Gehorsam mit bewussten Lügen verträgt. Etwas anderes beschäftigt mich auch: Eigentlich sind die meisten jungen Christen in unseren Gemeinden oft Jahrelang vergeben. Aber öffentlich würden sie sich nie zeigen, denn „öffentlich dauert die Verlobung nur wenige Monate“ (wenn auch nicht 3, eher 6). Ich finde das ist kein guter Umgang mit Courtship. Interessant ist, dass sich alle an solche Schein und tatsächlichen Wege so gewöhnen können, dass sie plötzlich entsetzt sind, wenn einer das vorlebt, was „offiziell“ gefordert wird. Manchmal frage ich mich, ob man bewusst diese zwei Wege fährt. Aber warum eigentlich? Warum fürchten wir uns, das überhaupt anzusprechen? Warum wollen wir nicht diese Dinge konkretisieren oder zumindest benennen?
Als der Gemeinde meiner Frau unsere kurze Verlobungszeit bewusst wurde, wurde ein unbequemes Gemunkele laut: Muss es so schnell gehen, weil ein Kind unterwegs ist? Einige alte Schwestern sprachen meiner Frau Trost zu, oder fragen sie diesbezüglich auch ganz offen. Aber der schwerwiegende Vorwurf der „mögliche Hurerei“ hat den Pastor nicht beschäftigt. Man kann wie immer gegen so ein Gemunkele nicht vorgehen und leider hat es vor allem meine Frau auch viel Widerstand aus der eigenen Familie eingebracht. Kaum einer konnte verstehen, warum alles so schnell gehen musste. Als ob wir eine Alternative gehabt hätten. Es gab durchaus überall Kosten zu zahlen und Wogen zu glätten. Die Zivi-Kollegen ärgerten sich, warum ich sie nicht zur Hochzeit eingeladen habe, ob ich wohl ein Kameradenschwein sei. Dem Vermieter zu erklären, warum wir so plötzlich eine Wohnung brauchen, war auch nicht so einfach. In all dem eine schnaubende rasende Mutter… Und natürlich musste die Einladung so schnell produziert werden, dass sie ganze 3 Rechtschreibfehler enthielt. (Ihr seht, Rechtschreibung war schon immer meine Schwäche).
Es wurde eine gute Hochzeit, wir hatten einige Gäste, etwa 500, aus einer befreundeten Gemeinde, kam nahezu die ganze Jugend, einige Klassenkameraden waren dabei, einige reisten sogar 500km und mehr an. Sie wurde im Gemeindehaus gefeiert, ein letzter Teil, ein äußerst feiner netter Abend, fand im Haus der Schwester meiner Frau statt. Eine Geschichte muss ich von diesem Tag noch berichten. Während der Durchführung von Hochzeiten in Evangeliums-Christen-Gemeinden kommt es zum Schluss zur Schleierabnahme. Der Hochzeitsschleier wird abgenommen und durch ein Kopftuch ersetzt. Die Schleierabnahme an meiner Frau vollzog ich – Sehr zum Missfallen der anwesenden Pastoren. Einer beschwerte sich später lautstark bei meinen Verwandten, woher wir den diesen liberalen Brauch hätten. Und obwohl plötzlich jeder über unsere Motive bescheid zu wissen glaubte, kann ich frei bekennen, dass wir schlicht weg gar nicht die Zeit gehabt haben, uns viel zu überlegen. Hätten wir gewusst, dass diese Art der Schleierabnahme ein Ärgernis ist, hätten wir sie kaum durchgeführt. Ich bin immer wieder fasziniert, wie gut so viele (leitende) Mitmenschen über meine Motive Bescheid zu wissen glauben. Leider haben wir diese Kritik auch bis heute nie persönlich erfahren. Erst vor kurzem erzählte mir ein Paar, das kurze Zeit nach uns geheiratet hat, wie ausführlich Ihnen ausgebreitet wurde, die Schleierabnahme ja nicht auf diese moderne Weise durchzuführen.
Es fällt nicht leicht, all das zu berichten, ohne zynisch zu werden. Aber noch schwerer wäre es, zu schweigen und damit so zu tun, als sei alles eitel Sonnenschein gewesen.
Ich hoffe, dass dieser Bericht hilft zu verstehen, warum ich heute manches kritisch sehe, was früher selbstverständlich schien:
- Es ist in Ordnung, deinem Pastor zu widersprechen, wenn er sündigt. Ich habe gelernt, dass auch Autorität fehlbar ist.
- Gehorsam ist kein Selbstzweck. Was zählt, ist das Herz – nicht das Kalenderdatum einer Verlobung.
- Kein Mensch kann per Deklaration Sünde oder Tugend festlegen. Gottes Wort bleibt der Maßstab.
- Meide jeden Schein, auch wenn er dich etwas kostet. Wahrhaftigkeit ist wichtiger als Konformität.
Rückblickend bin ich dankbar für die Lektionen, die ich in dieser Zeit lernen durfte. Sie haben mich für die Ehe vorbereitet – auf schnellem Weg, aber tiefgehend. Ich würde diese Erfahrungen nicht missen wollen.
Danke Sergej, für diesen spannenden und authentischen Einblick!
Einfach unfassbar, was du damals durchmachen musstest. Hat das auch zu Zweifel an die Gemeinde oder generell den Glauben geführt?
Hi Markus.
Zweifel am Glauben eigentlich nicht. Gerade Gottes Hilfe haben wir in dieser Zeit besonders gespürt – Ich habe aber langsam einsehen müssen, dass ich einen möglichen Ausschluss mehr fürchte als Gott, dass hat mich noch einige Jahre begleitet, und natürlich fiel das Einleben in der Gemeinde dann ziemlich schwer. Das hatte zur Folge, dass ich anfing die Fühler auszustrecken, und so Leute wie Wolfgang Bühne kennenlernte, und oder Chrsiten aus anderen Gemeinden bei uns in der Gegend.
Von außen betrachtet, ist das auf den ersten Blick extrem bizarr, auf den zweiten richtig böse. Wenn eine Überschreitung des Menschengebots (etwas anderes ist es nicht, ob es sich nun um 2 oder 3 oder egal wie viele Monate handelt) über die Länge der Verlobungszeit zu einem Gemeindeausschluss führt, dann ist das definitiv ein anderes Evangelium. „Vergeblich verehren sie mich, indem sie als Lehren Menschengebote lehren“, sagt Gott dazu.
Heuchelei ist dann zwangsläufig, weil man ja vor Menschen lebt und nicht vor Gott.
Tut richtig weh, das zu lesen.
Und die Unterordnung unter solche angemaßten Autoritäten ist auch etwas ganz anderes als der Gehorsam gegenüber den Führern, die uns Gottes Wort weitergeben. John McArthur wurde mal gefragt, welche Autorität ein Pastor hat, und er sagte: “ None besides the word of God.“
Hey Ruth, danke für deinen Kommentar.
Ich bin mir was die Gebote angeht nicht ganz so sicher, ich glaube es war s.Ferguson in dem Buch „Ganz sicher“ wo er schreibt,dass das Regelwerk fürs Golfen über 1000 Seiten dick ist. Ich wilol darauf hinaus, dass eigentlich so eine überreglementierung echt überall zu finden ist, man muss ja nur einem Verein beitreten, oder wenn ich dir mal von meiner Tätigkeit als Sicherheitsbeauftragter erzählen würde.
Irgendwie ist man schon sehr häufig in einer lage, irgendein GEbot zu befolgen, dass eigentlich sinnlos ist. Unsere GEsellschaft ist ja heute gegenwärtig nur in „sexuellen“ fragen frei, in allen anderne häuft sich eine Regel an die nächste.
Natürlich besteht die Option sich über ein Gesetz hinwegzusetzen, aber dann bist du Raus aus Verein, Firma, und das häufig schneller als aus der Gemeinde.
Oder was ganz anderes: Hier in Villingen gibt es einen reformierten Pastor, der die „gesetzlichen Russlanddeutschen“ nciht ausstehen kann, sie verursachen bei ihm Kopfschmerzen, aber als ich seine Gemeinde besucht habe, habe ich festgestellt, dass er ja genauso eine ganze Menge erfundener Gesetze hat, nur halt in anderen Gebieten. Da kannst du dich zwar anziehen wie du willst, aber wehe dir du versammelst Kinder auf der Straße, um ihnen von Jesus zu erzählen…