Kirchengeschichte

Warum wir die Puritaner brauchen

 Download als .pdf – Realisierung dieser Übersetzung mit freundlicher Unterstützung von dreieinigkeit.de

J.I.Packer

Wer waren die Puritaner?

Es heißt, Pferderennen sei der Sport der Könige. Doch das Austragen von Schlammschlachten erfreut sich größerer Beliebtheit. Besonders das öffentliche Anprangern der Puritaner war auf beiden Seiten des Atlantiks lange Zeit ein beliebter Zeitvertreib, weshalb das Bild, das die meisten Menschen vom Puritanismus haben, immer noch mit viel Schmutz behaftet ist, der abgekratzt werden muss.

Die Bezeichnung „Puritaner“ war in der Tat von Anfang an ein Schimpfwort. Der in den frühen 1560er Jahren geprägte Begriff war immer ein satirisches Schimpfwort, das Verdrossenheit, Kritiksucht, Eitelkeit und ein gewisses Maß an Heuchelei implizierte, ganz abgesehen von seiner grundlegenden Bedeutung einer religiös motivierten Unzufriedenheit mit der Kirche von England, die als Elisabeths laodizäische und kompromissbereite Kirche angesehen wurde. Später erhielt das Wort die weitere, politische Konnotation, nämlich eine Ablehnung der Stuart-Monarchie und Befürwortung einer Art Republikanismus; in erster Linie bezog es sich jedoch immer noch auf das, was als eine seltsame, wütende und hässliche Form der protestantischen Religion angesehen wurde.

In England brach mit der Restauration eine Welle der Ablehnung gegen die Puritaner los – und ebbte seither nie wirklich ab. In Nordamerika entwickelte sich diese Kritik langsamer, nahm aber nach der Zeit Jonathan Edwards’ Fahrt auf und erreichte ihren Höhepunkt vor rund hundert Jahren im nachpuritanischen Neuengland.

Doch in den letzten fünfzig Jahren haben Historiker das verzerrte Bild der Puritaner gründlich überarbeitet. Ähnlich wie Michelangelos Fresken in der Sixtinischen Kapelle nach der Entfernung der dunklen Lackschichten in neuen, ungewohnten Farben erstrahlen, hat sich auch das gängige Bild der Puritaner – zumindest für Kenner – radikal verändert. (Leider verbreitet sich das Wissen in manchen Kreisen nur langsam.)

Dank der Arbeiten von Perry Miller, William Haller, Marshall Knappen, Percy Scholes, Edmund Morgan und zahlreichen weiteren Forschern erkennen informierte Kreise heute an, dass die typischen Puritaner keine wilden, ungestümen oder verschrobenen Gestalten waren – keine religiösen Fanatiker oder gesellschaftlichen Extremisten. Vielmehr waren sie besonnene, pflichtbewusste und kultivierte Bürger: prinzipientreu, hingebungsvoll, entschlossen und diszipliniert, mit einem ausgeprägten Sinn für Familie und Gemeinschaft. Ihre einzige Schwäche war vielleicht ihre Vorliebe für lange Reden, wenn es um wichtige Themen ging – sei es im Gebet oder im Gespräch mit ihren Mitmenschen.

Endlich wurde die Sache richtiggestellt.

Und doch dürfte die Behauptung, dass wir Puritaner brauchen – wir spätmodernen, hochentwickelten Menschen des 20. Jahrhunderts, mit all unserer Raffinesse und unseren technischen Errungenschaften, sowohl in weltlichen als auch in religiösen Belangen – für Stirnrunzeln sorgen. Die Vorstellung hält sich hartnäckig, dass die Puritaner, selbst wenn sie verantwortungsbewusste Bürger waren, zugleich komisch und bemitleidenswert wirkten: naiv und abergläubisch, rückständig und leichtgläubig, verklemmt, gesetzlich, in Nebensächlichkeiten vertieft und sich nicht entspannen konnten oder wollten. Was also könnten uns diese Enthusiasten geben, das wir heute noch brauchen?

Die Antwort lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Reife.

Reife ist eine Mischung aus Weisheit, Wohlwollen, Widerstandskraft und Kreativität. Die Puritaner verkörperten diese Reife – wir hingegen nicht. Wir sind geistige Zwerge. Ein vielgereister geistlicher Leiter, ein nordamerikanischer Ureinwohner wohlgemerkt, hat einmal gesagt, dass er den nordamerikanischen Protestantismus als oberflächlich empfindet: menschenzentriert, manipulierend, erfolgsfixiert, selbstgefällig und sentimental – 3.000 Meilen breit und einen halben Zoll tief.

Die Puritaner dagegen waren in ihrer Gesamtheit Riesen. Sie waren große Persönlichkeiten, die einem großen Gott dienten. In ihnen vereinten sich kühle Leidenschaft und warmherziges Mitgefühl. Sie waren zugleich visionär und praktisch, idealistisch und realistisch, zielgerichtet und methodisch. Sie glaubten groß, hofften groß, handelten groß – und litten groß. Doch ihr Leiden, ob in England unter der Verfolgung durch die Obrigkeit oder in Neuengland unter den gnadenlosen Naturgewalten, machte sie erst zu dem, was sie waren: Menschen von fast heldenhafter Statur.

Bequemlichkeit und Wohlstand, wie wir sie heute im Überfluss genießen, fördern keine Reife. Härte und Kampf jedoch tun es – und die Kämpfe der Puritaner, sowohl gegen die geistige als auch gegen die klimatische Wildnis, in die Gott sie gestellt hatte, formten einen unbeugsamen, unerschütterlichen Charakter. Sie wuchsen über Entmutigung und Angst hinaus, getragen von einem Glauben, wie er sich in Gestalten wie Mose, Nehemia, Petrus nach Pfingsten oder dem Apostel Paulus zeigte.

Der geistliche Kampf formte die Puritaner zu dem, was sie waren. Sie betrachteten den Konflikt als ihre Berufung und sahen sich selbst als Soldaten und Pilger im Dienst ihres Herrn – genau wie in Bunyans Allegorie. Sie rechneten nicht damit, auch nur einen einzigen Schritt voranzukommen, ohne auf Widerstand zu stoßen, in welcher Form auch immer.

John Geree schrieb 1646 in seiner Schrift The Character of an Old English Puritane or Nonconformist:

„Sein ganzes Leben betrachtete er als einen Krieg, in dem Christus sein Hauptmann war, seine Waffen Gebete und Tränen. Das Kreuz war sein Banner und sein Wort [Motto]: Vincit qui patitur – Wer leidet, der siegt.“

Die Puritaner verloren so gut wie jede öffentliche Schlacht, die sie führten. Diejenigen, die in England blieben, konnten die anglikanische Kirche nicht wie erhofft reformieren und erreichten nur eine kleine Minderheit ihrer Anhänger. Letztlich wurden sie durch gezielten Druck auf ihr Gewissen aus der anglikanischen Kirche vertrieben.

Auch diejenigen, die den Atlantik überquerten, scheiterten an ihrem großen Ziel, in Neuengland ein neues Jerusalem zu errichten. In den ersten fünfzig Jahren kämpften ihre kleinen Kolonien ums nackte Überleben und hielten sich oft nur mit letzter Kraft über Wasser.

Doch ihre eigentlichen Siege waren nicht politischer oder gesellschaftlicher Natur. Ihr wahres Vermächtnis liegt in den moralischen und geistlichen Siegen, die sie errangen – indem sie trotz anhaltendem, fast unerträglichem Druck und Rückschlägen ihren Glauben bewahrten: ruhig, geduldig, gehorsam und voller Hoffnung. Diese Standhaftigkeit sicherte ihnen einen Ehrenplatz in der Hall of Fame der Gläubigen, deren erste Empore das Kapitel Hebräer 11 bildet.

Es war dieser unablässige Feuerofen der Prüfungen, der ihre Reife formte und ihre Einsicht in wahre Jüngerschaft verfeinerte. Der Evangelist George Whitefield schrieb über sie:

„Prediger schreiben und predigen niemals so kraftvoll wie unter dem Kreuz; denn dann ruht der Geist Christi und der Herrlichkeit auf ihnen. Zweifellos war es dies, was die Puritaner … zu solch brennenden und leuchtenden Lichtern machte. Als sie durch die schwarze Bartholomäus-Akte [die Uniformitätsakte von 1662] verstoßen und aus ihren jeweiligen Gemeinden vertrieben wurden, um in Scheunen und auf Feldern, auf Landstraßen und in Hecken zu predigen, schrieben und predigten sie in besonderer Weise als Männer mit Autorität. Obwohl sie tot sind, sprechen sie noch durch ihre Schriften; eine besondere Salbung begleitet sie bis zu dieser Stunde”

Diese Worte stammen aus dem Vorwort einer Neuauflage von Bunyans Werken aus dem Jahr 1767. Doch die geistliche Kraft, die sie beschreiben, ist ungebrochen. Ihre Autorität ist noch immer spürbar, und ihre reife Weisheit bleibt bis heute atemberaubend – wie jeder moderne Leser der Puritaner schnell selbst erkennt.

Durch das Erbe ihrer Schriften können die Puritaner uns auch heute den Weg zu jener Reife weisen, die sie besaßen – und die uns so dringend fehlt.

Sechs Lektionen

Wie genau können uns die Puritaner heute helfen? Lassen Sie mich einige konkrete Punkte vorschlagen.

Erstens können wir aus der Verzahnung ihres täglichen Lebens etwas lernen.

Ihr Christsein umfasste alle Bereiche ihres Lebens – nichts war davon getrennt. Heute würden wir ihre Lebensweise als ganzheitlich bezeichnen: Ihr gesamtes Bewusstsein, ihr Handeln und ihre Freude, ihr Gebrauch der Schöpfung und die Entfaltung ihrer Fähigkeiten und Kreativität waren in einem einzigen Ziel vereint – Gott zu ehren, indem sie seine Gaben wertschätzten und alles unter das Motto stellten: „Heilig dem Herrn“.

Für sie gab es keine Trennung zwischen heilig und weltlich. Die gesamte Schöpfung war aus ihrer Sicht heilig, und jede Tätigkeit – egal welcher Art – musste Gott geweiht sein das heißt  zur Ehre Gottes geschehen. In dieser geistlichen Haltung wurden die Puritaner zu zu Männern und Frauen der Ordnung, sachlich und bodenständig, betend, zielstrebig und praktisch.

Ihr Leben war ein harmonisches Ganzes: Da sie das Leben als Ganzes betrachteten, verbanden sie Betrachtung und Handlung, Gottesdienst und Arbeit, Mühe und Ruhe, Gottesliebe und Nächsten- und Selbstliebe, persönliche und soziale Identität sowie das breite Spektrum der Verantwortlichkeiten in den Beziehungen untereinander auf eine gründlich durchdachte und gewissenhafte Weise.

In dieser Sorgfalt waren sie extrem, d.h. weitaus gründlicher als wir, aber in ihrer Mischung aus der ganzen Bandbreite der christlichen Pflichten, die in der Heiligen Schrift dargelegt sind, waren sie äußerst ausgeglichen. Sie lebten nach einer „Methode“ (wir würden sagen, nach einer Lebensregel), planten und teilten ihre Zeit sorgfältig ein, nicht so sehr, um schlechte Dinge fernzuhalten, sondern um sicherzustellen, dass sie alle guten und wichtigen Dinge hineinbekamen – eine notwendige Weisheit, damals wie heute, für vielbeschäftigte Menschen! Wir heute, die wir dazu neigen, ein ungeplantes Leben in einer Reihe von nicht miteinander kommunizierenden Abteilungen zu führen, und die sich daher die meiste Zeit überfordert und abgelenkt fühlen, könnten in diesem Punkt viel von den Puritanern lernen.

Zweitens können wir aus der Qualität ihrer geistlichen Erfahrung lernen.

Für sie stand in ihrer Gemeinschaft mit Gott Jesus Christus im Mittelpunkt, während die Heilige Schrift als oberste Autorität galt. Die Bibel war für sie Gottes Anleitung zur Beziehung zwischen ihm und den Menschen, und sie strebten danach, ihr Leben konsequent nach ihr auszurichten – und das mit einer bemerkenswerten Methodik.

Die Puritaner verstanden sich als Wesen mit Verstand, Gefühlen und Willen. Sie wussten, dass Gottes Weg zum menschlichen Herzen (dem Willen) über den Verstand führt. Deshalb legten sie großen Wert auf systematische, durchdachte Meditation über die ganze Bandbreite biblischer Wahrheit und deren Anwendung auf ihr eigenes Leben.

Die puritanische Meditation über die Heilige Schrift war der puritanischen Predigt nachempfunden; in der Meditation versuchte der Puritaner, sein Herz zu erforschen und herauszufordern, seine Zuneigung zum Hass auf die Sünde und zur Liebe zur Gerechtigkeit zu wecken und sich selbst durch Gottes Verheißungen zu ermutigen, so wie es die puritanischen Prediger von der Kanzel aus taten.

Diese rationale, entschlossene, leidenschaftliche Frömmigkeit war gewissenhaft, ohne zwanghaft zu werden, gesetzestreu, ohne ins Gesetzliche abzugleiten, und sie verstand sich als Ausdruck der christlichen Freiheit, ohne in schändliche Ausschweifungen zu verfallen.

Die Puritaner wussten, dass die Schrift der unumstößliche Maßstab der Heiligkeit ist, und erlaubten sich nie, dies zu vergessen. Da sie auch um die Unehrlichkeit und Täuschung des gefallenen menschlichen Herzens wussten, pflegten sie eine Haltung der Demut und Selbstprüfung und untersuchten sich regelmäßig auf geistliche blinde Flecken und lauernde innere Übel.

Doch diese Praxis machte sie keineswegs mutlos oder krankhaft selbstbezogen. Im Gegenteil: Sie empfanden die geistliche Übung der Selbstprüfung anhand der Schrift (die nicht mit bloßer Introspektion zu verwechseln ist), gefolgt von der Beichte und Abkehr von der Sünde sowie der Erneuerung der Dankbarkeit gegenüber Christus für seine Vergebung, als eine Quelle tiefen inneren Friedens und großer Freude.

Wir heute, die wir oft erleben, dass unser Denken unklar, unsere Gefühle unkontrolliert und unser Wille schwankend ist, wenn es darum geht, Gott zu dienen, und die wir uns immer wieder von irrationalen, emotionalen Strömungen mitreißen lassen, die sich als „übergeistliche“ Erfahrungen tarnen, könnten auch in diesem Punkt viel vom Beispiel der Puritaner profitieren.

Drittens können wir aus ihrer Leidenschaft für effektives Handeln lernen.

Obwohl die Puritaner, wie der Rest der Menschheit, ihre Träume von dem hatten, was sein könnte und sein sollte – waren sie ganz sicher nicht die Art von Menschen, die wir als träumerisch bezeichnen würden. Sie hatten keine Zeit für den Müßiggang eines faulen oder passiven Menschen, der es anderen überlässt, die Welt zu verändern.

Sie waren Männer der Tat in rein reformierter Form – eifrige Aktivisten ohne einen Funken Selbstbezogenheit; Arbeiter für Gott, die sich voll und ganz darauf verließen, dass Gott in ihnen und durch sie wirkte, und die immer Gott das Lob für alles gaben, was sie taten und was sich im Nachhinein als richtig erwies; begabte Männer, die ernsthaft darum beteten, dass Gott sie befähigen möge, ihre Kräfte nicht zur Selbstdarstellung, sondern zu seinem Lobpreis einzusetzen.

Keiner von ihnen wollte Revolutionär in Kirche oder Staat sein, auch wenn einige von ihnen nur widerwillig zu solchen wurden; sie alle sehnten sich jedoch danach, wirksame Vermittler von Veränderungen für Gott zu sein, wo immer ein Wandel von der Sünde zur Heiligkeit erforderlich war.

Keiner von ihnen wollte Revolutionär sein – weder in Kirche noch im Staat, auch wenn einige von ihnen widerwillig zu solchen wurden. Was jedoch alle einte, war das brennende Verlangen, überall dort, wo Veränderung von Sünde zu Heiligkeit nötig war, als Werkzeuge Gottes zu dienen.

Daher beteten Cromwell und seine Armee vor jeder Schlacht lange und intensiv. Prediger beteten mit derselben Hingabe vor jeder Predigt, bevor sie sich auf die Kanzel wagten. Laien beteten ausdauernd, bevor sie wichtige Lebensentscheidungen trafen – sei es in der Ehe, im Geschäftsleben oder bei großen Anschaffungen.

Heute jedoch sind die Christen im Westen im Großen und Ganzen leidenschaftslos, passiv und, wie man befürchtet, gebetslos Sie haben sich daran gewöhnt, ihre persönliche Frömmigkeit in einem pietistischen Kokon einzuschließen, während sie öffentliche Angelegenheiten sich selbst überlassen. Einfluss über den eigenen christlichen Kreis hinaus wird weder angestrebt noch erwartet.

Während die Puritaner für ein heiliges England und ein heiliges Neuengland beteten und arbeiteten, im Bewusstsein, dass nationale Untreue Gottes Gericht nach sich ziehen könnte, geben sich viele heutige Christen mit gesellschaftlicher Respektabilität zufrieden – und blicken nicht weiter.

Es liegt auf der Hand, dass uns die Puritaner auch in diesem Punkt viel zu lehren haben.

Viertens können wir aus ihrem Konzept für die Stabilität der Familie lernen.

Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass die Puritaner das christliche Familienmodell in der englischsprachigen Welt geprägt haben. Die puritanische Ethik der Ehe bestand nicht darin, einen Partner zu suchen, den man in diesem Moment leidenschaftlich liebt, sondern vielmehr jemanden zu wählen, den man als besten Freund fürs Leben beständig lieben kann – und sich dann mit Gottes Hilfe genau darauf auszurichten.

Die puritanische Erziehungsethik zielte darauf ab, Kinder in der rechten Weise zu erziehen, indem man sich gleichermaßen um ihre körperlichen und seelischen Bedürfnisse kümmerte und sie auf ein nüchternes, gottesfürchtiges und sozial verantwortliches Erwachsenenleben vorbereitete.

Die puritanische Ethik des häuslichen Lebens basierte auf der Aufrechterhaltung von Ordnung, Höflichkeit und gemeinsamer Familienandacht. Wohlwollen, Geduld, Beständigkeit und eine ermutigende Haltung wurden als die wesentlichen häuslichen Tugenden angesehen.

In einer Zeit voller ständiger Entbehrungen, mit einer primitiven Medizin ohne Schmerzmittel, häufigen Todesfällen (die meisten Eltern verloren mindestens so viele Kinder, wie sie großzogen), einer durchschnittlichen Lebenserwartung von unter 30 Jahren und wirtschaftlicher Not für fast alle – außer für Kaufleute und den Landadel –, war das Familienleben der Puritaner in jeder Hinsicht eine Schule des Charakters.

Auch die Entschlossenheit, mit der die Puritaner der allzu vertrauten Versuchung widerstanden, den Druck der Außenwelt durch häusliche Gewalt zu entladen, und stattdessen bemüht waren, Gott in ihrer Familie zu ehren – trotz aller Widrigkeiten –, verdient höchstes Lob.

Zu Hause erwiesen sich die Puritaner als reif, indem sie Härten und Enttäuschungen realistisch als von Gott gewollt akzeptierten und verfielen dadurch weder in Mutlosigkeit noch in Bitterkeit.

Darüber hinaus übte sich der puritanische Laie in erster Linie zu Hause in Evangelisation und Seelsorge. “Er bemühte sich, seine Familie zu einer Kirche zu machen“ schrieb Geree, „… er arbeitete daran, dass die, die darin geboren wurden, auch für Gott wiedergeboren würden.“

In einer Zeit, in der das Familienleben selbst unter Christen brüchig geworden ist, in der feige Ehepartner den einfachen Weg der Trennung wählen, anstatt an ihrer Beziehung zu arbeiten, und in der narzisstische Eltern ihre Kinder materiell verwöhnen, während sie sie geistlich vernachlässigen, gibt es wieder einmal viel von den Puritaner zu lernen.

Fünftens kann man aus ihr tiefes Bewusstsein für den Wert des Menschen Lehren ziehen.

Durch den Glauben an einen großen Gott (den Gott der Heiligen Schrift, nicht verniedlicht und verharmlost) gewannen sie ein klares Bewusstsein für die Größe der moralischen Fragen, der Ewigkeit und der der menschlichen Seele.

Hamlets berühmte Worte „Was für ein Meisterstück ist der Mensch!“ drücken eine zutiefst puritanische Überzeugung aus: Die Wunderbarkeit der menschlichen Individualität war ihnen äußerst bewusst.

Zwar gelang es ihnen – unter dem Einfluss ihres mittelalterlichen Erbes, das lehrte, dass Irrtum keine Rechte habe – nicht immer, Andersdenkende mit der ihnen gebührenden Achtung zu behandeln, dennoch war ihr Respekt vor der Würde des Menschen als Geschöpf, das zur Freundschaft mit Gott bestimmt ist, groß. Besonders stark ausgeprägt war ihr Sinn für die Schönheit und Erhabenheit menschlicher Heiligkeit.

Heute leben die meisten von uns in einer kollektivierten, städtischen Massengesellschaft, in der das Bewusstsein für den ewigen Wert jedes Einzelnen zunehmend abnimmt.

Gerade hier kann der puritanische Geist eine dringend benötigte Korrektur sein – und uns eine wertvolle Lektion erteilen.

Sechstens können wir aus dem Leitbild der Puritaner für die kirchliche Erneuerung Lehren ziehen.

Sicherlich war „Erneuerung“ kein Wort, das sie benutzten; sie sprachen nur von „Reformation“ und „Reform“ – Begriffe die für uns heute oft nach einer rein äußerlichen Korrektur von orthodoxer Lehre, Kirchenordnung, Gottesdienstformen und Disziplinarvorschriften klingen. Doch wenn die Puritaner für Reformation predigten, schrieben und beteten, meinten sie nicht weniger als das – aber weit mehr.

Auf der Titelseite der Erstausgabe von Richard Baxters „The Reformed Pastor“ war das Wort „reformed“ in weitaus größerer Schrift gedruckt als alle anderen. Und es dauert nicht lange, bis man beim Lesen entdeckt, dass Baxter unter einem „reformierten“ Pastor nicht jemanden verstand, der für den Calvinismus kämpfte, sondern jemanden, dessen Dienst als Prediger, Lehrer, Seelsorger und Vorbild zeigte, dass er – wie wir heute sagen würden – erweckt oder erneuert war.

Das Wesen dieser Art von Reformation bestand in:

•            einem tieferen Verständnis von Gottes Wahrheit,

•            einer Erweckung der Liebe zu Gott,

•            einer größeren Leidenschaft in der persönlichen Frömmigkeit,

•            sowie mehr Liebe, Freude und Entschlossenheit im christlichen Leben.

Entsprechend war das Ideal für die Kirche, dass durch „reformierte“ Geistliche auch alle Mitglieder der Gemeinden „reformiert“ werden – das heißt, durch Gottes Gnade in eine Art von geistlicher Erweckung geführt werden, die sie:

•            wahrhaft und gründlich bekehrt,

•            theologisch gesund und orthodox,

•            geistlich wach und erwartungsvoll,

•            charakterlich weise und reif,

•            ethisch tatkräftig und gehorsam,

•            und dabei demütig, aber voller Freude über ihre Errettung machte.

Dieses Ziel prägte den gesamten puritanischen Gemeindedienst – sowohl in den englischen Gemeinden als auch in den unabhängigen „versammelten“ Gemeinden, die sich im 17. Jahrhundert zunehmend vermehrten.

Die Bemühungen der Puritaner um geistliche Erweckung in den Gemeinden wird uns heute bis zu einem gewissen Grad durch ihren Institutionalismus verdeckt. Wenn wir an die Umwälzungen des englischen Methodismus oder an das Great Awakening denken, verbinden wir Erweckungseifer oft mit einer Herausforderung oder gar einem Bruch mit der etablierten Ordnung. Die Puritaner hingegen sahen Reformation auf Gemeindeebene als einen geordneten, disziplinierten Prozess, der durch treue Predigt, Seelsorge und geistlichen Dienst des Pastors herbeigeführt werden sollte.

Zweifellos war der starke Klerikalismus der Puritaner eine ihrer Schwächen – insbesondere, weil er die Eigeninitiative der Laien einengte. Dies hatte letztlich unbeabsichtigte Folgen, als der Laieneifer schließlich überkochte – sichtbar in Cromwells Armee, im Quäkertum und in der Vielzahl von Sektierertum während der Commonwealth-Zeit.

Doch die Kehrseite dieser Medaille war das hohe und edle Bild des Pastors, das die Puritaner entwickelten: Der Pastor war gleichzeitig Evangeliumsprediger und Bibellehrer, Hirte und Seelsorger, Erzieher und Berater, Mentor und geistlicher Disziplinar – all dies in einer einzigen Person vereint.

Aus den Idealen und Zielen der Puritaner für das Gemeindeleben, die unbestreitbar zeitlos richtig sind, und aus ihren hohen Maßstäben für Geistliche, die bis heute fordernd und anspruchsvoll wirken, gibt es für moderne Christen erneut viel zu lernen und zu beherzigen.

Diese Überlegungen sind nur einige der offensichtlichsten Bereiche, in denen die Puritaner uns heute eine wertvolle Orientierung bieten können.

Der puritanische Traum

Die vorangegangene Würdigung der Größe der Puritaner mag bei manchen Lesern Skepsis hervorrufen. Doch wie bereits angedeutet, steht sie völlig im Einklang mit der grundlegenden Neubewertung des Puritanismus, die in der historischen Forschung stattgefunden hat.

Vor fünfzig Jahren erlebte die akademische Forschung des Puritanismus eine tiefgreifende Wende, mit der Entdeckung, dass es so etwas wie eine eigenständige puritanische Kultur gab – und zwar eine reiche und vielschichtige Kultur, die weit über die bloße Ablehnung bestimmter Aspekte des Mittelalters und der Renaissance hinausging.

Die früher weit verbreitete Annahme, dass Puritaner auf beiden Seiten des Atlantiks typischerweise eigenartig, zwanghaft, unbeholfen und wenig intelligent gewesen seien, wurde hinter sich gelassen. Statt der früheren spöttischen Abneigung gegenüber dem puritanischen Geistesleben trat ein wohlwollendes Interesse an dessen Erforschung, was dazu führte, dass sich die Untersuchung puritanischer Überzeugungen und Ideale zu einem dynamischen akademischen Forschungsfeld entwickelte – ein Prozess, der bis heute anhält.

Nordamerika übernahm hierbei die Vorreiterrolle, insbesondere durch die Veröffentlichung von vier einflussreichen Büchern innerhalb von zwei Jahren, die das Verständnis des Puritanismus nachhaltig veränderten:

•            William Haller, The Rise of Puritanism (Columbia University Press, New York, 1938)

•            A.S.P. Woodhouse, Puritanism and Liberty (Macmillan, London, 1938; Woodhouse lehrte in Toronto)

•            M.M. Knappen, Tudor Puritanism (Chicago University Press, Chicago, 1939)

•            Perry Miller, The New England Mind Vol. I: The Seventeenth Century (Harvard University Press, Cambridge, MA, 1939)

Viele weitere Bücher aus den 1930er Jahren und später haben die durch diese vier Werke geprägte Sichtweise des Puritanismus bestätigt und vertieft.

Das daraus entstandene Gesamtbild des Puritanismus sieht folgendermaßen aus: Der Puritanismus war im Wesentlichen eine geistliche Bewegung, die sich mit leidenschaftlichem Eifer Gott und der Frömmigkeit widmete. Seinen Ursprung nahm er in England mit William Tyndale, dem Bibelübersetzer und Zeitgenossen Luthers – also bereits eine Generation bevor der Begriff „Puritaner“ geprägt wurde. Er setzte sich bis in die späten Jahre des 17. Jahrhunderts fort, also noch einige Jahrzehnte, nachdem der Begriff außer Gebrauch geraten war.

Mehrere entscheidende Elemente prägten diese Bewegung:

•            Tyndales reformatorischer Biblizismus

•            John Bradfords Frömmigkeit des Herzens und des Gewissens

•            John Knox’ Eifer für die Ehre Gottes in den Nationalkirchen

•            Die Leidenschaft für evangelische Seelsorge und Gemeindedienst, wie sie bei John Hooper, Edward Dering und Richard Greenham zum Ausdruck kommt

•            Das Verständnis der Heiligen Schrift als „ordnendes Prinzip“ für Gottesdienst und Kirchenordnung, inspiriert von Thomas Cartwright

•            Der anti-römische, anti-arminianische, anti-socinische und anti-antinomianische Calvinismus, wie ihn John Owen und die Westminster Standards formulierten

•            Der umfassende ethische Anspruch, der in Richard Baxters monumentalem Werk „Christian Directory“ seinen Höhepunkt fand

•            Der Wunsch, die Lehren der Bibel verständlich zu machen und in die Praxis umzusetzen, der Männer wie William Perkins und John Bunyan antrieb – und viele mehr

Der Puritanismus war im Kern eine Bewegung für Kirchenreform, pastorale Erneuerung, Evangelisation und geistliche Erweckung.

Darüber hinaus – und zwar als direkter Ausdruck seines Eifers für die Ehre Gottes – war er aber auch eine ganzheitliche Weltanschauung: eine vollständige christliche Philosophie, die intellektuell als protestantisierter und modernisierter Mittelalter-Glaube verstanden werden kann und spirituell als reformiertes Mönchtum – allerdings außerhalb des Klosters und ohne Mönchsgelübde.

Das Ziel der Puritaner bestand darin, das zu vollenden, was mit der englischen Reformation begonnen hatte:

•            Sie wollten den anglikanischen Gottesdienst weiter reformieren.

•            Sie strebten danach, eine wirksame Kirchenzucht in den anglikanischen Gemeinden einzuführen.

•            Sie wollten Gerechtigkeit in den politischen, familiären und sozioökonomischen Bereichen etablieren.

•            Und sie hatten die Vision, alle Engländer zu einem lebendigen, evangelikalen Glauben zu bekehren.

Durch die Predigt und Lehre des Evangeliums sowie die Heiligung aller Künste, Wissenschaften und Fertigkeiten sollte England zu einem Land der Heiligen werden – einem Vorbild kollektiver Frömmigkeit und dadurch zu einem Segen für die ganze Welt.

Dies war der puritanische Traum, wie er sich unter Elisabeth I., Jakob I. und Karl I. entwickelte, während des Zwischenregierungszeit (der Herrschaft ohne König) aufblühte – und dann im dunklen Tunnel der Verfolgung zwischen 1660 (Restauration) und 1689 (Toleranzgesetz) verkümmerte.

Dieser Traum brachte geistliche Riesen hervor.

Ignoriert sie auf eigene Gefahr!

Was ich hier präsentiere, ist – das gebe ich offen zu – bewusste Fürsprache, unverblümt und ohne Scham. Ich möchte die These untermauern, dass die Puritaner uns wichtige Lektionen lehren können, die wir dringend lernen müssen. Dazu werde ich meine Argumentation noch etwas weiterführen.

Es sollte mittlerweile klar sein, dass die großen puritanischen Pastor-Theologen – Owen, Baxter, Goodwin, Howe, Perkins, Sibbes, Brooks, Watson, Gurnall, Flavel, Bunyan, Manton und viele andere – herausragende intellektuelle Kraft mit tiefer geistlicher Einsicht verbanden.

Ihre Denkweise war von nüchterner Gelehrsamkeit geprägt, doch zugleich brannten sie vor leidenschaftlichem Eifer für Gott und kannten das menschliche Herz bis in seine verborgensten Tiefen. Ihre Werke spiegeln diese einzigartige Verbindung von Gaben und Gnade wider.

In ihrem Denken und ihrer Weltsicht waren sie radikal gottzentriert.

•            Ihre Ehrfurcht vor Gottes souveräner Majestät war tief.

•            Ihre Achtung vor Gottes Wort war beständig und ernsthaft.

•            Sie waren geduldig, gründlich und methodisch in ihrem Studium der Heiligen Schrift.

•            Sie durchdrangen die Zusammenhänge und feinen Verknüpfungen der geoffenbarten Wahrheit mit Klarheit und festem Griff.

•            Sie verstanden zutiefst Gottes Wege mit den Menschen, die Herrlichkeit Christi als Mittler und das Wirken des Geistes in den Gläubigen und in der Kirche.

Doch ihr Wissen war keine bloße theoretische Orthodoxie. Sie wollten alles, was Gott sie lehrte, in die Praxis umsetzen – oder, wie sie es selbst ausdrückten, „zur Anwendung bringen“.

•            Ihr Gewissen war an Gottes Wort gebunden.

•            Sie disziplinierten sich, alle ihre Aktivitäten dem Prüfstein der Schrift zu unterwerfen.

•            Sie verlangten eine theologische und nicht bloß eine pragmatische Rechtfertigung für alles, was sie taten.

Sie wandten ihr Verständnis von Gottes Willen auf alle Lebensbereiche an:

o            Kirche, Familie, Staat, Kunst, Wissenschaft, Handel und Industrie – nichts war ausgenommen.

o            Ebenso sahen sie das persönliche Glaubensleben als ein Feld, in dem Gott geehrt werden musste.

Die Puritaner hatten eine ganzheitliche Sicht des Lebens, weil sie seinen Schöpfer als Herrn über jeden Bereich erkannten. Ihr Ziel war es, dass über allen Aspekten des Lebens die Worte geschrieben stehen:

„Heilig dem Herrn“

Aber die Puritaner erkannten nicht nur Gott, sondern auch die menschliche Natur. Sie sahen den Menschen als ursprünglich edles Geschöpf, geschaffen im Ebenbild Gottes, um über die Erde zu herrschen – doch durch die Sünde entstellt und erniedrigt.

Ihr Blick auf die Sünde war dreifach geprägt:

•            Im Licht des Gesetzes Gottes sahen sie sie als Übertretung und Schuld.

•            Im Licht der Herrschaft Gottes als Rebellion

•            Im Licht der Heiligkeit Gottes als Unreinheit, Verderbnis und völlige Unfähigkeit zum Guten.

Indem sie dies erkannten und die Wege verstanden, auf denen der Geist die Sünder zum Glauben und zu einem neuen Leben in Christus führt und die Heiligen dazu anleitet, einerseits in das Bild ihres Erlösers hineinzuwachsen und andererseits ihre völlige Abhängigkeit von der Gnade zu begreifen, wurden die großen Puritaner zu ausgezeichneten Seelsorgern.

Ihre praktische und erprobte Verkündigung auf der Kanzel war ebenso tief wie ihr Geschick im Umgang mit kranken Seelen. Aus der Heiligen Schrift heraus zeichneten sie mit großer Sorgfalt den oft herausfordernden Glaubensweg und die Gemeinschaft mit Gott nach (man denke nur an Bunyans Pilgerreise). Gleichzeitig war ihre Schärfe und Weisheit in der Diagnose geistlicher Erkrankungen und in der Anwendung der biblischen Heilmittel herausragend.

Sie bleiben die klassischen Pastoren des Protestantismus, so wie Männer wie Whitefield und Spurgeon als klassische Evangelisten gelten.

Und gerade hier in diesem Bereich der Seelsorge benötigen heutige evangelikale Christen am meisten Hilfe. Einerseits scheint unsere Zahl in den letzten Jahren gewachsen zu sein, und auch das Interesse an den alten Wegen der evangelikalen Theologie hat zugenommen – und dafür sollten wir Gott danken. Doch nicht jeder evangelikale Eifer beruht auf wahrer Erkenntnis, und auch die Tugenden und Werte des biblischen Christenlebens fügen sich nicht immer so harmonisch zusammen, wie sie es sollten.

Besonders drei Gruppen innerhalb der heutigen evangelikalen Welt benötigen dringend die Korrektur, wie sie gerade die Puritaner in ihren Schriften in einzigartiger Weise vermitteln. Ich nenne sie:

1.            Die rastlosen Erlebnisorientierten

2.           Die unnachgiebigen Intellektuellen

3.           Die enttäuschten Aussteiger

Diese Gruppen sind natürlich keine organisierten Strömungen, sondern vielmehr wiederkehrende Denk- und Verhaltensmuster, die man immer wieder in Einzelpersonen antrifft.

Diejenigen, die ich rastlose Erlebnisorientierte nenne, sind eine allzu vertraute Erscheinung – so sehr, dass manche Beobachter dazu neigen, den Evangelikalismus genau über sie zu definieren.

Ihre Grundhaltung ist geprägt von Unruhe, Ungeduld und einer Jagd nach Neuem. Sie sind auf der Suche nach geistlichen „Highlights“, emotionalen Höhenflügen und Unterhaltung. Sie bewerten starke Gefühle höher als tiefes Denken.

Sie haben wenig Interesse an fundiertem Studium, ehrlicher Selbstprüfung, disziplinierter Meditation und unspektakulärer, beständiger Hingabe in ihrem Dienst und Gebet.vSie sehen das Christsein nicht als einen Weg konsequenter, nüchterner Gerechtigkeit, sondern als eine Abfolge von aufregenden außergewöhnlichen Erlebnissen.

Sie konzentrieren sich ständig auf Themen wie Freude, Frieden, Glück, Erfüllung und innere Ruhe, ohne dabei die notwendige Balance durch die geistlichen Kämpfe aus Römer 7, den Glaubenskampf aus Psalm 73 oder die Tiefpunkte aus den Psalmen 42, 88 und 102 herzustellen, wodurch der Eindruck entsteht, dass wahre Christen immer fröhlich und unbeschwert sein müssen. Wer eher nachdenklich oder zurückhaltend ist, fühlt sich schnell fehl am Platz oder zweifelt an seinem Glauben, weil er diese überschwängliche Freude nicht aufbringen kann.

In ihrer Ruhelosigkeit neigen diese Überschwänglichen zu unkritischer Leichtgläubigkeit und glauben, dass eine Erfahrung umso göttlicher, übernatürlicher und geistlicher sei, je ungewöhnlicher und auffälliger sie wirkt – dabei verlieren sie die biblische Tugend der Beständigkeit fast völlig aus dem Blick.

Es reicht nicht aus, diese Mängel durch die spezialisierten Seelsorgetechniken zu entschuldigen, die einige Evangelikale in den letzten Jahren für pastorale Zwecke entwickelt haben. Geistliches Leben wächst nicht durch Methoden, sondern durch Wahrheit. Wenn jedoch unsere Techniken auf einer verzerrten Vorstellung von Wahrheit und einem falschen Ziel beruhen, können sie uns weder zu besseren Seelsorgern noch zu gefestigteren Gläubigen machen.

Der Grund für die Schieflage der rastlosen Erlebnisorientierten liegt darin, dass sie einer Form von Weltlichkeit erlegen sind – einem menschenzentrierten, anti-rationalen Individualismus, der das christliche Leben zu einer egozentrischen Suche nach spirituellen Höhenflügen degradiert. Solche Gläubigen brauchen genau die Art reifender geistlicher Führung, wie sie die puritanische Tradition besonders gut zu bieten hat.

Welche Betonungen der Puritaner können rastlose Erlebnisorientierte festigen und zur Ruhe bringen? Hier sind einige zentrale Aspekte:

1.            Erstens, die Betonung der Gottzentriertheit als göttliche Forderung, die im Zentrum der Selbstverleugnung steht.

2.           Zweitens, das Vorrangige des Verstandes und die Erkenntnis, dass man biblische Wahrheiten nicht gehorsam leben kann, wenn man sie nicht zuerst verstanden hat.

3.           Drittens, die Forderung nach Demut, Geduld und Beständigkeit zu jeder Zeit sowie die Einsicht, dass das Hauptwirken des Heiligen Geistes nicht darin besteht, emotionale Höhenflüge zu schenken, sondern in uns einen christusähnlichen Charakter zu formen.

4.           Viertens, die Anerkennung, dass Gefühle schwanken und dass Gott uns oft auf die Probe stellt, indem er uns durch Phasen emotionaler Leere führt.

5.           Fünftens, die Anbetung als zentrale Aufgabe des Lebens.

6.           Sechstens, die Notwendigkeit regelmäßiger Selbstprüfung anhand der Schrift, wie sie Psalm 139, Verse 23–24 vorgibt.

7.           Siebtens, das Bewusstsein, dass geheiligtes Leiden eine große Rolle in Gottes Plan für das Wachstum seiner Kinder in der Gnade spielt.

8.           Keine christliche Tradition vermittelt dieses reinigende und stärkende Heilmittel mit größerer Autorität als die der Puritaner, deren Lehre über ein Jahrhundert hinweg einen erstaunlich widerstandsfähigen und gefestigten Christentypus hervorgebracht hat.

Keine christliche Tradition hat dieses formende und stärkende geistliche Heilmittel mit mit mehr Nachdruck verabreicht als die Puritaner. Ihre Lehre prägte über ein Jahrhundert hinweg eine außergewöhnlich widerstandsfähige und tief verwurzelte Generation von Christen.

Denken wir nun an die unnachgiebigen Intellektuellen innerhalb der evangelikalen Welt – eine zweite vertraute Gruppe, wenn auch nicht so häufig anzutreffen wie die vorherige. Einige scheinen von innerer Unsicherheit und Minderwertigkeitsgefühlen geprägt zu sein, andere reagieren aus Stolz oder verletztem Empfinden gegen die von ihnen wahrgenommene Maßlosigkeit des Erlebnisglaubens. Doch wo auch immer die Wurzeln dieses Syndroms liegen, ihr Verhaltensmuster ist unverkennbar.

Sie treten beständig als strenge, diskussionsfreudige und kritische Christen auf, als Kämpfer für Gottes Wahrheit, für die Rechgläubigkeit alles bedeutet. Ihr Hauptinteresse besteht darin, ihre Sicht dieser Wahrheit zu bewahren und zu verteidigen – sei es als Calvinisten oder Arminianer, als Vertreter der Dispensationslehre oder der Pfingstbewegung, als Reformatoren der Volkskirche oder als Separatisten der Freikirche, oder was auch immer ihr theologischer Standpunkt sein mag. Sie setzen sich mit ganzer Kraft für diese Aufgabe ein.

Doch es fehlt ihnen an Herzlichkeit; in Beziehungen bleiben sie auf Distanz, persönliche Erfahrungen bedeuten ihnen wenig, und ihr größtes Ziel ist es, den Kampf um die geistige Korrektheit zu gewinnen. Sie erkennen durchaus, dass unser anti-rationales, gefühlsbetontes und auf sofortige Bedürfnisbefriedigung ausgerichtetes Denken die begriffsbezogene Erkenntnis göttlicher Wahrheiten unterschätzt – und sie setzen sich leidenschaftlich dafür ein, dieses Ungleichgewicht zu korrigieren.

Ihr Verständnis für die Vorrangstellung des Intellekts ist stark ausgeprägt. Doch das Problem ist, dass ihr Intellektualismus, der sich in endlosen Auseinandersetzungen um die „richtige“ Lehre äußert, oft alles ist, was sie zu bieten haben – denn es ist fast alles, was sie besitzen.

Auch sie, so möchte ich betonen, brauchen die Begegnung mit dem puritanischen Erbe, um geistlich zu reifen.

Diese letzte Aussage mag paradox erscheinen, denn dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass das oben gezeichnete Bild genau dem entspricht, was viele immer noch für den typischen Puritaner halten. Doch wenn wir fragen, welche Schwerpunkte die puritanische Tradition setzt, um trockenen Intellektualismus auszugleichen, zeigt sich eine ganze Reihe wichtiger Punkte:

Erstens, wahrer Glaube ergreift nicht nur den Verstand, sondern auch das Herz – er ist, wie Richard Baxter es ausdrückte, „Herzensarbeit“.

Zweitens, theologische Wahrheit dient der praktischen Umsetzung. William Perkins definierte Theologie als die Wissenschaft, ewig gesegnet zu leben; William Ames nannte sie die Wissenschaft des Lebens für Gott.

Drittens, bloße Begriffskenntnis tötet, wenn man nicht vom theoretischen Wissen über Gott zu einer lebendigen Beziehung mit ihm gelangt.

Viertens, Glaube und Buße münden in ein Leben der Liebe und Heiligkeit, das sich in Dankbarkeit, Wohlwollen und guten Werken äußert – genau das fordert das Evangelium ausdrücklich.

Fünftens, der Heilige Geist wird gegeben, um uns in enge Gemeinschaft mit anderen Gläubigen zu führen.

Sechstens, die bewusste, reflektierende Meditation über Gottes Wahrheit soll unsere Liebe zu Gott lebendig und anbetend halten.

Siebtens, es ist unchristlich und skandalös, Streit zu entfachen und Spaltung in der Gemeinde zu verursachen. In der Regel entspringt dies nichts anderem als geistlichem Hochmut in seiner intellektuellen Form.

Die großen Puritaner waren ebenso demütig und warmherzig wie klar denkend, ebenso zugewandt gegenüber Menschen wie gegenüber der Schrift, ebenso leidenschaftlich für den Frieden wie für die Wahrheit. Sie hätten die heutigen fixierten christlichen Intellektualisten als geistlich unterentwickelt diagnostiziert – nicht wegen ihres Eifers für gesunde Lehre, sondern wegen ihres Mangels an Eifer für alles andere. Und die puritanische Lehre über Gottes Wahrheit im Leben des Menschen hat nach wie vor die Kraft, solche Seelen zu ganzer und reifer Menschlichkeit heranreifen zu lassen.

Nun wende ich mich schließlich denen zu, die ich enttäuschte Aussteiger nenne – den Verletzten und Aussteigern der modernen evangelikalen Bewegung. Viele von ihnen haben sich inzwischen ganz von ihr abgewandt und prangern sie als neurotische Verzerrung des Christentums an. Auch diese Gruppe ist uns nur allzu vertraut.

Es ist schmerzlich, über sie nachzudenken – sowohl weil ihre bisherigen Erfahrungen den Evangelikalismus in den Augen vieler schwer diskreditieren als auch weil ihre Zahl beunruhigend groß ist. Wer sind sie? Es sind Menschen, die sich einst als Evangelikale verstanden – entweder weil sie in diesem Umfeld aufgewachsen sind oder weil sie sich innerhalb der evangelikalen Bewegung bekehrt haben. Doch irgendwann haben sie sich enttäuscht und desillusioniert von ihr abgewandt, weil sie sich von ihr im Stich gelassen fühlten.

Einige haben aus intellektuellen Gründen den Rückzug angetreten: Sie empfanden die ihnen vermittelte Lehre als zu simplistisch, um ihren Geist wirklich herauszufordern, und als so wirklichkeitsfremd, dass sie letztlich – wenn auch unbeabsichtigt – unehrlich wirkte.

Andere kehrten der evangelikalen Bewegung den Rücken, weil ihnen vermittelt wurde, das Christenleben sei gleichbedeutend mit Gesundheit, Wohlstand, problemlosen Umständen, Schutz vor Verletzungen, Enttäuschungen und Fehlentscheidungen – kurz gesagt, sie erwarteten ein sorgenfreies Leben, das sie auf Rosen gebettet in den Himmel tragen würde. Doch das Leben belehrte sie eines Besseren. Als ihre großen Erwartungen von der Realität zerschlagen wurden, blieben sie verletzt und verbittert zurück. Sie empfanden sich als Opfer eines gewaltigen Täuschungsmanövers, gaben enttäuscht den Evangelikalismus auf und klagten ihn an, sie in die Irre geführt zu haben. Es ist ein Gnadenakt, wenn sie dabei nicht auch Gott selbst den Rücken kehren.

Die moderne evangelikale Bewegung hat viel Verantwortung für die Vielzahl dieser „Verletzten“, die sie in den letzten Jahren durch intellektuelle Naivität und unrealistische Erwartungen selbst hervorgebracht hat. Doch auch hier kann das nüchterne, tiefgründige und weise Evangelikalismus-Verständnis der großen Puritaner eine heilende und korrigierende Funktion erfüllen – wenn wir nur bereit sind, auf ihre Botschaft zu hören.

Was haben die Puritaner uns zu sagen, das helfen könnte, die enttäuschten und verletzten Aussteiger des modernen evangelikalen Durcheinanders zu heilen? Wer ihre Schriften liest, wird darin vieles finden, das in dieser Hinsicht Orientierung und Trost bietet.

Die Puritaner lehren uns erstens über das Geheimnis Gottes: Unsere Vorstellung von Gott ist oft zu klein. Der wahre Gott lässt sich nicht vollständig in ein menschliches Denksystem pressen und bleibt in seinem Handeln für jene, die ihm vertrauen und ihn lieben, oft unergründlich. „Losses and crosses“ – also Verluste und Enttäuschungen in Bezug auf Hoffnungen, die man sich gemacht hat – gehören zum Glaubensleben und müssen als wiederkehrender Bestandteil der Gemeinschaft mit Gott angenommen werden.

Zweitens lehren sie uns über die Liebe Gottes: Diese Liebe ist eine, die erlöst, bekehrt, heiligt und schließlich verherrlicht. Ihre volle und eindeutige Offenbarung fand sie am Kreuz von Golgatha. Und obwohl keine Situation in dieser Welt völlig frei von Schwierigkeiten sein wird, dürfen wir gewiss sein, dass nichts uns von dieser Liebe trennen kann (Röm. 8,38f.).

Drittens sprechen sie von der Errettung durch Gott: Christus, der unsere Sünden hinweggenommen und uns mit Gottes Vergebung beschenkt hat, führt uns durch diese Welt in eine Herrlichkeit, für die wir bereits jetzt durch das Wachsen der Sehnsucht nach ihr und die Fähigkeit, sie zu genießen, vorbereitet werden. Der Weg dorthin führt über Heiligkeit – gelebten Glauben in Hingabe, Dienst und Gehorsam, auch in schweren Zeiten.

Viertens weisen die Puritaner auf den geistlichen Kampf hin: Die Welt, das Fleisch und der Teufel versuchen auf viele Weisen, uns zu Fall zu bringen.

Fünftens lehren sie über den Schutz Gottes: Gott gebraucht und heiligt sogar unsere Kämpfe. Oft lässt er ein kleineres Übel zu, um uns vor einem größeren zu bewahren.

Sechstens rufen sie uns die Herrlichkeit Gottes ins Bewusstsein: Unser Vorrecht ist es, seine Gnade zu feiern, seine Macht unter Druck und Unsicherheit zu bezeugen, uns seinem Willen ganz anzuvertrauen und in ihm zu jeder Zeit unsere Freude zu finden.

Diese Wahrheiten der Puritaner bieten eine tiefere, beständigere und reifere Sicht des christlichen Lebens – eine, die die Fehlentwicklungen des modernen Evangelikalismus korrigieren und Heilung für die Verletzten bringen kann.


Ein Artikel von J.I. Packer. Erschienen unter dem Titel „Why we need“ the Puritans“ in Themelios 21/2 (Januar 1996). Übersetzung mit freundlicher Genehmigung. Dieser Text wurde von Markus Buller übersetzt.

Für dich vielleicht ebenfalls interessant...

3 Kommentare

  1. Marin Marinov sagt:

    Vielen Dank für’s Teilen! Packer hat mit diesem Beitrag wunderbar in unsere evangelikale Wohlstandsbubbel gestochen, die auf Lauheit und Selbstliebe gegründet ist. Wir können in der Tat so viel von den Puritanern lernen und dieser Artikel hat mich sehr motiviert, es ihnen noch besser nachzumachen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die angesprochene hartherzige Haltung gegenüber Geschwistern anderer theologischer Standpunkte. Leider war ich dem auch zu oft verfallen, gerade aus Mangel an christlicher Reife. Sie gibt jedoch unserem Herrn keine Ehre und bedarf der regelmäßigen kritischen Selbstüberprüfung.

    1. Hallo Marin, danke für diesen freundlichen Kommentar. Er ist eine Ermutigung, ich habe gerade erst vorher einem Freund geschrieben, ob die ganze Mühe den Aufwand wert war, da so lange Texte selbst kostenfrei kaum gelesen werden. Packers Text über die Puritaner ist ein Meisterwerk!

      1. Marin Marinov sagt:

        Hallo Sergej,
        sehr gerne. Es freut mich, dass es dir zur Ermutigung dienen konnte. Gerne mehr davon 😉

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert