Was ist Sünde? Das Wesen und die Wurzel aller Sünde

John Piper:

Vortrag vor dem ganzen Plenum – Pastoren-Konferenz 2015 „Wo die Sünde zunahm: Die Rebellion des Menschen und die überfließende Größe der Gnade“ (Download als .pdf)

Warum verbringen wir eine ganze Pastoren-Konferenz mit dem Thema Sünde? Lasst mich euch nur einen kurzen Einblick geben, warum ich im letzten Sommer dem Team vorgeschlagen habe, uns auf Sünde zu fokussieren. Ich las Stephen Westerholms neues Buch „Justification Reconsidered“ (auf deutsch: „Rechtfertigung – neu gedacht“) und war tief bewegt von Kapitel 2 und 3, in denen er sich auf das Verhältnis der Sichtweise des Paulus auf die Sünde und der Lehre der Rechtfertigung konzentriert.

Westerholm beschäftigt sich mit der „Neuen Perspektive auf Paulus“, eine Bewegung unter Gelehrten des Neuen Testaments der letzten fünfzig Jahre, deren Kern etwa wie folgt lautet: in den letzten fünfhundert oder mehr Jahren hat die Kirche – besonders die Protestanten – die Glaubensinhalte des Judentums des ersten Jahrhunderts völlig missverstanden, und damit auch das Wesen der Auseinandersetzung zwischen Paulus und den Juden seiner Zeit.

Die „Neue Perspektive“ besagt, dass der grundlegende Fehler der Kirche darin bestand, dass sie dachte, das Judentum des ersten Jahrhunderts sei eine Religion gewesen, welche das Erlangen der Errettung durch Werke des Gesetzes lehrte, anstatt sie als empfangen durch Gottes Gnade zu verstehen. Stattdessen, so argumentierte die „Neue Perspektive“, sei das Judentum eine Religion der Gnade. Es enthält Versöhnung durch Opfer und Vergebung von Sünden, die aus Gottes Gnade fließt.

Das Argument lautet: Wenn das stimmt, dann hätte Paulus nicht gegen jüdische Gesetzlichkeit argumentieren können als er beispielsweise Folgendes schrieb:

Aber da wir wissen, dass der Mensch nicht aus Gesetzeswerken gerechtfertigt wird, sondern nur durch den Glauben an Christus Jesus, haben wir auch an Christus Jesus geglaubt, damit wir aus Glauben an Christus gerechtfertigt werden und nicht aus Gesetzeswerken, weil aus Gesetzeswerken kein Fleisch gerechtfertigt wird. (Gal 2,16)

Die „Neue Perspektive“ besagt, dass Paulus nicht Menschen kritisiert, die denken, man könne sich seine Rettung durch Halten des Gesetzes verdienen, weil (so sagen sie) es nicht das war, was das Judentum im ersten Jahrhundert glaubte.

Ich würde euch nur verwirren, wenn ich versuchen würde, euch alle Einzelheiten dessen zu sagen, was Paulus gemäß der „Neuen Perspektive“ wohl gedacht hat.

Ihr müsst nicht die Feinheiten der „Neuen Perspektive“ verstehen, um zu sehen, was ich als so unfassbar hilfreich empfunden habe und was die Wichtigkeit der Lehre der Sünde vor meinem inneren Horizont wie eine Rakete in die Höhe schießen ließ. Hier in Kürze alles was ihr dazu wissen müsst:

Sogar der einflussreichste Vordenker der „Neuen Perspektive“ E. P. Sanders („Paul and Palestinian Judaism“, 1977) gesteht ein, dass den Juden, obwohl es im Judentum eine ernsthafte Lehre der Gnade gab (wie könnte es anders sein, wo es doch im Alten Testament verwurzelt war), trotzdem „Gnade und Verdienst nicht im Widerspruch zueinander zu stehen schienen. … Gnade und Werke wurden nicht als alternative Wege zur Rettung gesehen“ („Justification Reconsidered“, S. 30).

Paulus jedoch vertraute auf Gottes Gnade als den Weg zum rechten Stand vor Gott. Das schloss alles Vertrauen auf Werke als Grundlage für diesen rechten Stand vor Gott aus.

Ich bezeuge aber noch einmal jedem Menschen, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. Ihr seid von Christus abgetrennt, die ihr im Gesetz gerechtfertigt werden wollt; ihr seid aus der Gnade gefallen. (Gal 5,3-4)

Ein winzig kleiner Schritt des Vertrauens auf das Halten des Gesetzes macht alles zunichte. Wenn du dich auf eine einzige eigene Tat als Grundlage für deinen rechten Stand vor Gott verlässt, dann bist du aus Gottes gnädigem Weg gefallen, dich gerecht zu sprechen.

In anderen Worten: Der Pionier dessen, was später die „Neue Perspektive“ genannt wurde (E. P. Sanders) zeigt, dass das Judentum, obwohl es eine starke Lehre der Gnade hatte, der Gnade nicht dieselbe Rolle und dieselbe vorrangige Stellung gab wie es Paulus tat. Es sah das Vertrauen auf die Gnade und das Vertrauen auf einige gute Werke nicht als zwei Alternativen wie Paulus es tat.

Warum nicht? Die Antwort lautet, dass Paulus eine sehr viel radikalere Sicht der Sündhaftigkeit des menschlichen Herzens hatte als der Mainstream des Judentums seiner Zeit. Paulus glaubte nicht, dass man der Gnade als Grundlage unserer Annahme durch Gott irgendein gutes Werk hinzufügen kann – nicht mal ein einziges. Der Grund dafür liegt darin, dass kein nicht wiedergeborener, nicht gerechtfertigter Mensch auch nur ein einziges gutes Werk tun kann (siehe Seite 32). Und selbst die guten Taten der Gerechtfertigten sind unvollkommen und können daher nicht das Geringste zur Grundlage unseres rechten Standes vor Gott beitragen.

Sanders sagt: „Die Rabbis hatten keine Lehre der Erbsünde oder der wesensmäßigen Sündhaftigkeit jedes Menschen im christlichen Sinne“ (S. 33). Hier also nun der Kern des Ganzen: Der Grund, warum Paulus die Rechtfertigung allein aus Gnade, allein durch Glauben, predigte, lag nicht darin, dass den Juden, die ihn anklagten, eine Lehre der Gnade fehlte, sondern weil ihnen eine Lehre der Sünde fehlte, welche die Gnade Gottes in Christus zur einzigen Grundlage der Annahme durch Gott machte.

Ich erinnere mich, wie ich im letzten Sommer in Knoxville in einem Stuhl im zweiten Stock am Fenster saß und diese vernichtende, herrliche Zusammenfassung des zweiten Kapitels aus Westerholms Buch las:

Paulus‘ Darstellung des Zustands des Menschen erfordert eine sehr viel gründlichere Abhängigkeit von der Gnade Gottes als die des Judentums. … Wenn man (gemeinsam mit Sanders) sagt, dass dem Judentum eine Lehre der „wesensmäßigen Sündhaftigkeit“ der Menschheit fehlte, dann ist das keine verzerrte Sichtweise. Kein Jude würde diese Aussage als eine Beleidigung auffassen. Für Paulus andererseits ist es gerade die „wesensmäßige Sündhaftigkeit“ der Menschheit, welche eine Erlösung erforderlich macht, die allein auf Gnade basiert und von allen menschlichen „Werken“ losgelöst ist. (S. 34)

Ich erinnere mich, wie ich beim Lesen innehielt und mich selbst hinterfragte: „Kenne ich meinen Zustand? Weiß ich, was er mit meiner wesensmäßigen Sündhaftigkeit meint? Habe ich eine Ahnung davon, was an mir den Tod des Gott-Menschen erforderlich machte, damit ich gerettet werden konnte? Habe ich irgendeine angemessene Vorstellung meiner eigenen Boshaftigkeit? Steht sie irgendwie im Verhältnis zum ungeheuren Preis meiner Errettung?“

Das war der Ursprung dieser Konferenz. Und nur um die Veranschaulichung zu vervollständigen: Deswegen ist die alte Perspektive auf Paulus, die in der Reformation geklärt und verkündigt wurde, nicht grundlegend falsch. Ja, es gibt Gnade im Judentum – Versöhnung, Buße, Vergebung – aber nein, das schloss für sie das Beimischen guter Werke zur Gnade als Grundlage für einen rechten Stand vor Gott nicht aus. Nur eine Sache schließt das aus: wir sind so sündhaft, dass wir nicht ein einziges gutes Werk zur Grundlage unserer Annahme durch Gott beitragen können. Weder gibt es irgendwo in der gesamten nicht wiedergeborenen Menschheit gute Werke, noch gab es sie jemals, und das seit dem Sündenfall Adams und Evas. So schlimm ist die Lage. Ich werde diese Aussage gleich untermauern.

Und zu diesem Zeitpunkt im letzten Sommer spürte ich sowohl persönlich als auch lehrmäßig eine Last. Lehrmäßig wurde mir klar, dass ich, wenn ich das wahre Wesen und die Tiefe und die Macht und das Ausmaß der Sünde nicht sehe, nicht nur die Lehre der Rechtfertigung, sondern damit fast alles verzerren würde: Was ist geschehen, als Christus für die Sünde starb? Was geschieht bei der Bekehrung – Wiedergeburt und Glaube und Buße? Wie kommen Heiligung und Ausharren im Glauben und Heiligkeit zustande? Wie wird der Himmel sein? Werde ich dort ganz sicher frei von Sünde sein?

Und persönlich spürte ich: Kenne ich das Wesen meiner eigenen Sünde? Habe ich ein angemessenes Gespür für die Macht, die Tiefe und die Boshaftigkeit dessen, wenn ich es (wie Paulus es nennt) mit der „in [dem Gläubigen] wohnenden Sünde“ zu tun habe? Habe ich die Art Liebe zu Christus und Dankbarkeit für die Gnade, die dem Grauen dessen entspricht, wovor ich gerettet wurde, und dem Preis, den der schönste und unschuldigste Mensch für diese Rettung bezahlte?

Was ist die tiefste Wurzel der Sünde?

Was ich in dieser Predigt also hauptsächlich tun will, ist die folgende Frage biblisch zu beantworten: Was ist Sünde? Was ist das Wesen und die Wurzel aller Sünde?

Lasst uns sofort zur tiefsten Wurzel gehen. Ich möchte herausfinden, ob Westerholm Recht hat: Getrennt von der Gnade Gottes in Christus sind wir Menschen so sündhaft, dass wir überhaupt keine guten Werke tun können. Das ist eine drängende Frage, weil ihr euch dessen bewusst seid, dass ihr vieles von dem, was Ungläubige tun, „gut“ nennt: Krankenhäuser bauen, sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung halten, Friedensverhandlungen erfolgreich abschließen, Krankheiten heilen, die Armen mit Nahrung versorgen, gerechte Löhne zahlen, und so weiter und so fort. Und die Bibel selbst sagt, dass normale Menschen ohne Bezug zu ihrem Glauben gute Werke tun können.

Denn die Regenten sind nicht ein Schrecken für das gute Werk, sondern für das böse. Willst du dich aber vor der staatlichen Macht nicht fürchten, so tue das Gute, und du wirst Lob von ihr haben. (Röm 13,3)

Was meinte Westerholm also, als er sagte „Menschen sind unfähig, gute Werke zu tun“ (S. 32)? Und warum stimme ich ihm zu?

Die durchschlagskräftigste und ausführlichste Betrachtung der Bibel über die Sünde findet sich in Römer 1-3. Und obwohl das Wort nicht verwendet wird, wissen wir, dass es das ist, womit Paulus sich beschäftigt, weil er bei seiner Zusammenfassung sagt: „Was nun? Haben wir [Juden] einen Vorzug? Durchaus nicht! Denn wir haben sowohl Juden als auch Griechen vorher beschuldigt, alle unter der Sünde zu sein“ (Röm 3,9). Und in den nächsten Versen lässt er keinen Zweifel an seiner Schlussfolgerung: „Da ist kein Gerechter, auch nicht einer“ (V. 10) und „Da ist keiner, der Gutes tut“ (V. 12).

Wir kehren auf unserer Suche nach dem Wesen der Sünde also zu Römer 1 zurück. Was meine ich mit dem Wesen? Was liegt ihr zugrunde? Was macht alle sündhaften Taten sündhaft? Was an uns ist im Kern faul und lässt so viele verschiedene Arten an Boshaftigkeit aufsteigen?

Du könntest sagen: Warum denkst du überhaupt so? Warum gehst du nicht einfach davon aus, dass Sünde das ist, was wir tun? Warum suchst du für das Tun eine Wurzel, oder einen Zustand, oder eine sogenannte Verdorbenheit?

Der Grund dafür, warum ich in unserem Tun eine Wurzel der Verdorbenheit suche, liegt darin, weil Paulus es tut. Und er tut das nicht beiläufig, sondern energisch und kraftvoll. Paulus sieht, dass das Wesen oder die Wurzel aller Sünde eine Macht ist, etwas in uns, Teil dessen, wer wir sind, was man Sünde nennt. In Römer 7,8 sagt er zum Beispiel: „Die Sünde aber ergriff durch das Gebot die Gelegenheit und bewirkte jede Begierde in mir.

Natürlich stimmt jeder zu, dass Begierde eine Sünde ist. „Du sollst nicht begehren“ (2Mo 20,17). Es ist eine Sünde im Herzen. Es ist eine Herz-Sünde, die äußerliche Sünden wie Stehlen hervorbringen kann. Beachtet jedoch: Paulus sagt: „die Sünde bewirkt Begierde“. Nun ja, Begierde ist Sünde. Richtig. Es gibt also eine Sünde unter der Sünde, die Sünde bewirkt. Das ist es, was ich sehen will. Ich will an der Wurzel erkennen, was verkehrt an mir ist. Was liegt all meiner Boshaftigkeit zugrunde? Und all der Boshaftigkeit in der Welt?

Lasst uns zu Römer 1 zurückkehren und mit Vers 18 beginnen. „Denn es wird offenbart Gottes Zorn vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, welche die Wahrheit durch Ungerechtigkeit (adikian) niederhalten.“ Hier wird die Menschheit allgemein als „gottlos und ungerecht“ beschrieben. Johannes sagt in 1. Johannes 5,17: „Jede Ungerechtigkeit (adikia) ist Sünde.“ Wir sprechen hier also über Sünde. Und Paulus entscheidet sich, zuerst mit den Begriffen Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit darüber zu sprechen.

Sein erster Punkt ist, dass sie Menschen dazu bringt, die Wahrheit niederzuhalten. Die Sünde stößt das Licht der Wahrheit zurück und läuft in die Finsternis der Falschheit. Jesus sagte, dass wir schuldige Sünder sind. Das sind wir nicht, weil wir Opfer der Finsternis sind, sondern weil wir die Finsternis lieben. In Johannes 3,19 heißt es, „dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen haben die Finsternis mehr geliebt als das Licht“. Die Sünde neigt dazu und ermächtigt uns dazu, die Wahrheit niederzuhalten.

Welche Wahrheit hasst die Sünde ganz besonders? Der nächste Vers sagt es uns. Römer 1,19. Der Grund, den wir dafür kennen, dass Menschen die Wahrheit unterdrücken, lautet: „Weil das von Gott Erkennbare unter ihnen offenbar ist, denn Gott hat es ihnen offenbart.“ Die Erkenntnis Gottes stößt Sünde ab. Paulus sagt also, dass wir keine Entschuldigung haben, wenn diese Erkenntnis unterdrückt wird. Warum? Verse 20-21: „damit sie ohne Entschuldigung sind; weil sie Gott kannten, ihn aber weder als Gott verherrlichten noch ihm Dank darbrachten“.

Die Wurzel der Unterdrückung der Erkenntnis Gottes ist, dass wir es meiden wollen, Gott zu verherrlichen und ihm zu danken. Die Sünde liebt es nicht, Gott zu verherrlichen. Die Sünde liebt es nicht, Gott zu danken. Die Sünde hasst es, Gott zu verherrlichen und Gott zu danken. Das ist die Bedeutung von „gottlos“ in Vers 18. In „Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit“, so sagt er es, unterdrücken wir die Wahrheit – die Wahrheit nämlich, dass Gott der Ehre und des Dankes aus unserem Herzen unendlich wert ist. Die Sünde hasst das und unterdrückt daher die Wahrheit.

Aber die Sünde ist nicht nur gut darin, zu hassen. Die Sünde liebt auch. Wenn die verhasste Wahrheit unterdrückt wird, dann wird die geliebte Lüge fest umklammert. Das wird im Rest von Kapitel 1 immer wieder beschrieben. Schaut euch die Verse 22-23 an: „Indem sie (das sind jene, welche die Wahrheit unterdrücken und verfinsterte Herzen haben) sich für Weise ausgaben, sind sie zu Narren geworden und haben die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes verwandelt in das Gleichnis eines Bildes“. Sie begraben die Wahrheit nicht einfach nur; sie umklammern im Austausch andere Liebhaber. Es gibt kein Vakuum. Wenn der wahre Gott abgelehnt wird, dann werden Bilder umklammert. Sie „haben die Herrlichkeit Gottes in das Gleichnis eines Bildes verwandelt“. Die Sünde hasst den wahren Gott und liebt ihre Bilder, die an Gottes Stelle treten.

Ist das die Wurzel der Sünde? Wenn es je eine Zeit gab, in der sich alles um Bilder dreht, dann ist es unsere Zeit. Den Großteil unserer Freizeit verbringen wir damit, Bilder anzuschauen. Schaut mal, wie Paulus nun das Verhältnis zwischen diesem Vertauschen, diesem Unterdrücken des wahren Gottes und diesem Umklammern von Ersatzgöttern – das Verhältnis zwischen all diesen Dingen und der Ausbreitung der Sünde in der Welt beschreibt.

Vers 24: „Darum [wegen dieses Tausches in Vers 23] hat Gott sie dahingegeben in den Begierden ihrer Herzen in die Unreinheit, ihre Leiber untereinander zu schänden“. Wegen des Tausches in Vers 23 lockert Gott seinen Griff und die Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit des menschlichen Herzens rennt ungehindert in Richtung Sünde.

Und falls wir die Verbindung zwischen Vers 23 und Vers 24 übersehen haben (die Wurzel dessen, dass Gott niedergehalten wird und dessen, dass die Unreinheit im Leben überhandnimmt), dann erwähnt er sie beim Übergang von Vers 24 zu Vers 25 noch einmal.

Warum rannten ihre Herzen in die Unreinheit, um „ihre Leiber untereinander zu schänden“ (Vers 24)? Vers 25 gibt die Antwort: Weil sie „die Wahrheit Gottes in die Lüge verwandelt und dem Geschöpf Verehrung und Dienst dargebracht haben statt dem Schöpfer“. Die Unreinheiten aktiver Sünde haben eine Wurzel. Das ist die Wurzel: Die Sünde hasst die Wahrheit Gottes, unterdrückt sie und vertauscht sie damit, was sie liebt und anbetet. Die Sünde liebt es, die Schöpfung und nicht den Schöpfer zu lieben und ihr zu dienen. Das ist die Wurzel der Sünde.

Und falls wir die Verbindung zwischen Vers 23 und Vers 24 übersehen haben, und falls wir die Verbindung zwischen Vers 24 und Vers 25 übersehen haben, zeigt Paulus es wieder beim Übergang zwischen Vers 25 und Vers 26. Vers 26: „Deswegen“ – weswegen? Wegen Vers 25, weil wir die Wahrheit über Gott mit einer Lüge vertauscht haben und die Schöpfung angebetet und ihr gedient haben – deswegen (nun lest Vers 26 weiter): „Gott hat sie dahingegeben in schändliche Leidenschaften.“ Die Flut schändlicher Leidenschaften in der Welt, mit all ihrem Benehmen, hat eine Wurzel. Die Wurzel ist, dass die Sünde die Wahrheit über Gott hasst und Gott-Ersatz anbetet, dient und liebt.

Bitte tragt es Paulus nicht nach und glaubt bitte nicht, dass er es übertreibt – ich sagte ja, dass er sich energisch und kraftvoll hinab in die Wurzel der Verderbtheit unter unseren Sünden bohrt. Aber er tut es hier ein weiteres Mal – ein viertes Mal (nicht nur an den Übergängen zwischen Vers 23 und 24, 24 und 25, und 25 und 26). Schaut euch Vers 28 an: „Und wie [oder da] sie es nicht für gut fanden [oder nicht zustimmten, edokimasan], Gott anzuerkennen, hat Gott sie dahingegeben in einen verworfenen Sinn, zu tun, was sich nicht gebührt.

„Sie fanden es nicht für gut, Gott anzuerkennen“ ist, denke ich, eine sanfte Übersetzung, die man kraftvoller wiedergeben kann: „Sie stimmten nicht zu, Gott in ihrem Wissen zu haben“. Die Wahrheit Gottes stürmt aus allen Richtungen auf sie zu und sie spüren es: „Ich erkenne dich nicht an! Ich will dich nicht. Du gefällst mir nicht. Ich werde dich nicht als Teil meines Wissens in mich hineinlassen.“ Und dann kommt die Verbindung, die wir nun vier Mal gesehen haben: „Gott hat sie dahingegeben in einen verworfenen Sinn, zu tun, was sich nicht gebührt“.

Achtet auf zwei entscheidende Begriffe: Weil sie die Lüge der Wahrheit (Vers 25) und Bilder Gott vorziehen (Vers 23), daher gibt Gott sie einem „verworfenen Sinn“ hin. Eine andere gute Übersetzung des Wortes „verworfen“ wäre „verdorben“. Wenn ihr euch also je fragt: Woher kommt die Vorstellung menschlicher Verderbtheit, so ist hier eine Antwort. Ohne erlösende Gnade durch Jesus Christus werden wir in eine Verderbtheit des Geistes dahingegeben, die Gott nicht will.

Und der zweite entscheidende Ausdruck, den wir in Vers 28 bemerken sollten: „zu tun, was sich nicht gebührt“. „Gott hat sie dahingegeben in einen verworfenen Sinn, zu tun, was sich nicht gebührt“. Diese Verderbtheit, die Gott nicht will, tut Dinge, die sich nicht gebühren. In anderen Worten: Die Wurzel sündiger Taten liegt in einem sündigen Wesen. Und ganz auf dem Grund der Sündhaftigkeit des sündigen Wesens liegt dieses: Wir mögen den wahren und lebendigen Gott nicht. Wir unterdrücken die Wahrheit, die zu ihm führt. Wir vertauschen seine Herrlichkeit mit Bildern. Wir wollen ihn nicht in unserem Wissen haben. Wir haben eine tiefe, unerschütterliche, unwiderstehliche Vorliebe zu anderen Dingen als zu Gott. Das ist der Grund.

Wenn wir also zum Ende der Analyse und der Anklageschrift gegen unseren Zustand des Paulus kommen und er beginnt, sich dem großartigen Werk Gottes zuzuwenden, das uns vor unserer Sünde und vor seinem Zorn gegen die Sünde rettete, dann sind wir nicht überrascht, dass alles mit diesen Worten in Römer 3,23 zusammengefasst wird: „denn alle haben gesündigt und erlangen nicht die Herrlichkeit Gottes“. Das Wort für „nicht erlangen“ lautet wörtlich „fehlen“ (husterountai). Was bedeutet das?

Nun ja, wenn du etwas nicht erlangst, dann fehlt es dir. Du hast es nicht. Aber dir kann auf mehr als eine Weise etwas fehlen, oder du kannst etwas nicht erlangen, oder etwas nicht haben. Hier erlangen wir also nicht die Herrlichkeit Gottes oder verfehlen sie. Bedeutet das: Ein Nichterlangen des Zustands, in dem wir mit der Herrlichkeit Gottes herrlich sind? Oder bedeutet es, die Herrlichkeit Gottes als unseren höchsten Schatz nicht zu erlangen – unsere höchste Perspektive?

Wir wissen aus Römer 8,17, dass wir, wenn wir die Herrlichkeit Gottes als unseren alles überragenden Schatz haben, mit der Herrlichkeit Gottes verherrlicht werden. Aber was ist hier gemeint? Worauf konzentriert sich Römer 3,23? Meine Antwort lautet: Paulus meint, dass alle gesündigt haben, d.h. wir alle verfehlen es, Gott als unseren alles überragenden Schatz zu umklammern. Und der Grund dafür, warum ich glaube, dass es das bedeutet, liegt darin, weil er das auf dem Weg zu seiner Schlussfolgerung mindestens vier Mal gesagt hat.

Römer 1,18: Wir unterdrücken die Wahrheit über Gott. Römer 1,21: Wir verherrlichen ihn nicht und danken ihm nicht. Römer 1,23: Wir vertauschen seine Herrlichkeit mit Bildern. Römer 1,25: Wir vertauschen die Wahrheit über Gott mit einer Lüge. Wir beten an – wir staunen über das, was Gott gemacht hat, und nicht über Gott. Römer 1,28: Wir wollen nichts vom wahren Gott wissen. Wir wollen ihn nicht. Wir bevorzugen andere Dinge oder andere Menschen mehr als Gott. Er ist nicht unser alles überragender Schatz. Wir haben das verfehlt: Gott kennen, wertschätzen, würdigen, lieben, schätzen, und zwar mehr als alles andere. Das ist der Kern unseres sündigen Zustands und das ist die Wurzel aller sündhaften Taten. Das ist der Urgrund.

Eine Definition der Sünde

Meine Definition der Sünde lautet also: Sünde ist jedes Gefühl, jeder Gedanke, jedes gesprochene Wort, jede Tat, die aus einem Herzen kommen, das Gott nicht mehr als alles andere schätzt. Und der Urgrund der Sünde, die Wurzel aller Sünde, ist ein solches Herz – ein Herz, das irgendetwas anderes Gott vorzieht, ein Herz, das Gott nicht mehr schätzt als alle anderen Menschen und alle anderen Dinge. Mit diesen Worten habe ich es in einer Predigt vor einigen Jahren auszudrücken versucht:

Was ist Sünde? Sünde ist:

  • Wenn die Herrlichkeit Gottes nicht geehrt wird.
  • Wenn die Heiligkeit Gottes nicht verehrt wird.
  • Wenn die Größe Gottes nicht bewundert wird.
  • Wenn die Macht Gottes nicht gepriesen wird.
  • Wenn die Wahrheit Gottes nicht gesucht wird.
  • Wenn die Weisheit Gottes nicht hoch geschätzt wird.
  • Wenn die Schönheit Gottes nicht als Schatz gesehen wird.
  • Wenn die Güte Gottes nicht genossen wird.
  • Wenn der Treue Gottes nicht vertraut wird.
  • Wenn den Verheißungen Gottes nicht geglaubt wird.
  • Wenn den Geboten Gottes nicht gehorcht wird.
  • Wenn die Gerechtigkeit Gottes nicht respektiert wird.
  • Wenn der Zorn Gottes nicht gefürchtet wird.
  • Wenn die Gnade Gottes nicht wertgeschätzt wird.
  • Wenn die Gegenwart Gottes nicht als wertvoll angesehen wird.
  • Wenn die Person Gottes nicht geliebt wird.

Woran liegt es, dass Menschen gefühlvoll und moralisch empört auf die Armut und die Ausbeutung und die Vorurteile und die Abtreibung und die Verstöße gegen die Religionsfreiheit und die vielfältigen Ungerechtigkeiten von Menschen gegen Menschen reagieren, und doch nur ein bisschen, oder gar keine Reue oder Empörung oder Entsetzen darüber empfinden, dass Gott von Abermillionen von Menschen auf der Welt missachtet, ihm nicht geglaubt, ihm nicht gehorcht, er nicht geehrt und er auf diese Weise erniedrigt wird? Die Antwort lautet: Es liegt an der Sünde. Und das ist im ganzen Universum der ultimative Grund zum Entsetzen.

Paulus hat in Römer 1-3 klargestellt, was das Wesen oder die Wurzel der Sünde ist. Nun macht er in den folgenden Kapiteln die Tragweite ihrer Macht in uns klar. Er spricht von der Sünde, die im Tod wie ein König regiert (5,21), eine Herrschaft ausübt wie ein Herr (6,14), versklavt wie ein Sklaventreiber (6,6.16f.20), an den wir verkauft wurden (7,14), als eine Macht, die andere Sünden hervorbringt (7,8), als eine Kraft, die das Gesetz an sich reißt und tötet (7,11), als eine feindliche Besatzungsmacht, die in uns wohnt (7,17.20), und als eine Gesetzmäßigkeit, die uns gefangen nimmt (7,23). Und diese in uns wohnende Macht bestimmt uns, bis wir wiedergeboren werden.

Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem Geist geboren ist, ist Geist“ (Joh 3,6). Paulus fügt hinzu: „Denn ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt“ (Röm 7,18). Ohne die neue Geburt, die neue Schöpfung durch den Geist Gottes wegen Christus, sind wir die Verkörperung des Widerstands gegen Gott. „Die Gesinnung des Fleisches [ist] Feindschaft gegen Gott, denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan, denn sie kann das auch nicht“ (Röm 8,7). Weil es nicht will. Wir missbilligen Gott als alles überragenden Schatz. Wir bevorzugen andere Dinge.

Wir können also die Vorstellung für immer begraben, dass die Sünde hauptsächlich das ist, was man tut oder nicht tut. Es ist nicht hauptsächlich das, was man tut. Es ist hauptsächlich das, was man ist – bis man in Christus eine neue Schöpfung ist. Und selbst dann ist sie für uns, die wir durch Gott geboren werden, ein allezeit gegenwärtiger Feind, den man jeden Tag durch den Geist abtöten muss (Röm 8,13).

Vor Christus ist die Sünde keine fremde Macht. Die Sünde ist, dass wir alles andere Gott vorziehen. Die Sünde ist unsere Missbilligung Gottes. Die Sünde ist unser Vertauschen seiner Herrlichkeit mit irgendeinem Ersatz. Die Sünde ist unsere Unterdrückung der Wahrheit Gottes. Die Sünde ist die Feindseligkeit unseres Herzens gegen Gott. Sie ist das, was wir bis zum Grund unseres Herzens sind. Bis wir Christus begegnen.

Können solche Sünder also gute Werke tun? Können sie Krankenhäuser bauen, sich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen halten, Friedensverhandlungen erfolgreich abschließen, Krankheiten heilen, die Armen mit Nahrung versorgen, gerechte Löhne zahlen? Und sicherlich lautet die Antwort aus jedem Blickwinkel: Ja.

Denn die Regenten sind nicht ein Schrecken für das gute Werk, sondern für das böse. Willst du dich aber vor der staatlichen Macht nicht fürchten, so tue das Gute, und du wirst Lob von ihr haben. (Röm 13,3)

Was meinte Westerholm also, als er sagte „Menschen sind unfähig [gute Werke] zu tun“ (S. 32)? Lag er einfach nur falsch?

Nein. Weil es einen anderen Blickwinkel gibt, wie man es betrachten kann. Einen anderen biblischen Blickwinkel.

Der andere Blickwinkel beginnt in Röm 3,10.12: „Da ist kein Gerechter, auch nicht einer; … da ist keiner, der Gutes tut, da ist auch nicht einer.“ Aus diesem Blickwinkel ist klar: Ohne Christus können wir nichts Gutes tun. Der Autor des Hebräerbriefs drückt es so aus: „Ohne Glauben aber ist es unmöglich, ihm wohlzugefallen“ (Hebr 11,6). Und Paulus bringt es so zum Ausdruck: „Alles aber, was nicht aus Glauben ist, ist Sünde“ (Röm 14,23).

In anderen Worten: Der Grund dafür, warum im Neuen Testament manche Taten von Ungläubigen „gut“ genannt wurden, liegt im normalen Sprachgebrauch, mithilfe dessen wir manchmal Taten gemäß gewöhnlichen menschlichen Maßstäben beschreiben. Ehebruch begehen ist schlecht. Keinen Ehebruch zu begehen ist gut.

Aber es gibt einen anderen Blickwinkel. Wenn das nicht-Begehen von Ehebruch aus einem Herzen kommt, das keine Liebe zu Gott hat, und viele Dinge mehr als Gott wertschätzt, dann ist diese Art Keuschheit kein Ausdruck der Liebe zu Gott. Es ist keine Art, seinen Wert auszudrücken. Also verunehrt es Gott. Er wird abgelehnt, ignoriert, als nicht entscheidender Faktor angesehen, und in diesem Sinne ist die Frucht des Herzens nicht gut. Westerholm drückte es folgendermaßen aus: „Wo Gott nicht geehrt wird, da läuft etwas Grundlegendes schief und befleckt selbst das, was anderenfalls gut wäre“ (S. 48).

Deine Denkweise über alle Dinge muss von einer radikalen Gott-Zentriertheit bestimmt sein. Wenn Gott nicht im Zentrum steht und alles andere überragt, wenn seine Ehre und Herrlichkeit in deinen Neigungen nicht den höchsten Platz einnehmen, dann werden Freundlichkeit, Wahrheitsliebe, Großzügigkeit, bei deren Ausübung Gott ignoriert wird, von dir nicht als böse gesehen. Das wird einfach nicht in dein Denken passen. Das macht nur dann Sinn, wenn Gottes Herrlichkeit das alles bestimmende, alles durchdringende Gute des Universums ist.

Paulus musste sich einer massiven Neuorientierung seines Denkens unterziehen, als er sich bekehrte – eine Neuorientierung in Bezug auf Gott und Sünde und auf fast alles. Er sagte in Philipper 3,6-8, dass er „untadelig im Gesetz“ war, bevor er Christ wurde. Das enthielt viele gute Taten und das Vermeiden vieler schlechter Taten. Und nachdem er Christ geworden war, sagte er: „Aber was auch immer mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Verlust gehalten; … und halte es für Dreck, damit ich Christus gewinne“ (Phil 3,7-8). In anderen Worten: Wenn nicht all diese guten Taten aus Glauben an Christus stammen, dann sind sie Dreck und Verlust. Das war seine neue Ausrichtung.

Der Grund dafür, warum Paulus sagt, dass alles „was nicht aus Glauben ist, Sünde ist“ (Röm 14,23) liegt darin, dass der Glaube bedeutet, Gott in Christus als Erlöser und Herrn und alles überragenden Schatz anzunehmen. Das bedeutet, dass Taten, die nicht aus Glauben sind, nicht daher kommen, dass man Gott über alle anderen Dinge schätzt. Und das ist es, was Sünde ist – wenn wir Gott nicht mehr als alles wertschätzen, wenn wir irgendetwas Gott vorziehen.

Die Gnade wird süßer

Da sitze ich also im letzten Sommer auf meinem Stuhl in Knoxville, Tennessee und erkenne wie nie zuvor die fürchterliche und herrliche Wahrheit, dass der Grund für meine Rechtfertigung, für meinen rechten Stand vor Gott, nicht zu 99,99% Gnade und zu 0,01% gute Werke ist. Es gibt keine wirklich guten Werke in denen, die noch nicht gerechtfertigt sind. Es gibt sie nicht und es hat sie seit dem Sündenfall auch nie mehr gegeben. Die Frage für den Ungläubigen ist nicht: „Kannst du genug gute Werke tun, um deine schlechten Werke zu überwiegen?“ Die Frage lautet: „Kannst du auch nur ein gutes Werk tun und das als Teil der Grundlage deiner Annahme durch Gott beitragen?“ Die Antwort lautet: Nein. „Da ist keiner, der Gutes tut, da ist auch nicht einer“ (Röm 3,12).

Es war ein schwerwiegender Augenblick der Erkenntnis. Und die Rechtfertigung allein aus Gnade und allein durch Glauben auf Grundlage von Christus allein und zur Ehre Gottes allein – all das ist für mich niemals süßer gewesen. Ich bete, dass dies auch für euch wahr wird.


 

Ursprünglich eine Predigt von John Piper, veröffentlicht am 02.02.2015 unter dem Titel: „What Is Sin? The Essence and Root of All Sinning”, gehalten im Jahr 2015 auf einer Pastorenkonferenz mit dem Titel: „Where Sin Increased: The Rebellion of Man and the Abundance of Grace” auf Desiring God.

https://www.desiringgod.org/messages/what-is-sin-the-essence-and-root-of-all-sinning

Übersetzt von Viktor Zander, korrigiert von Lina Kromm

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