„Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ – Lukas 14,35
Es gibt eine Art christliche Polemik, die mich immer irritiert hat. Sie enthält immer Aussagen dieser Art: „Manche sagen, es kommt auf das Herz an, aber Geschwister, lasst euch nicht verführen, das was im Herzen ist, kommt auch nach Außen. Mit dem Äußeren dienen wir Gott genauso wie mit dem Inneren etc etc“. Und fertig ist die Steilvorlage alles nach Belieben für Wichtig, ja elementar wichtig zu erklären, und mit endlosem Eifer einzufordern: Den Sacko zum Gottesdienst trägt man dann, weil man Gott mit seinem Aussehen auch Ehrfurcht bringen möchte, die Schuhe poliert man, weil man mit geweihten Füßen laufen möchte und plötzlich fragt man sich, wofür Markus 7 überhaupt in der Bibel steht – der Text der übrigens überhaupt Ausgangstext für obige Aussage war.
Ich beschwere mich hier übrigens nicht als reiner Oppositioneller, – sehr häufig haben mich die Argumente durchaus überzeugt und ich habe mich schon gefragt, ob ich Gott durch noch häufigeres Rasieren nicht doch mehr ehren könnte. Sehr häufig habe ich mich gefragt, es kann ja nicht sein, dass ich hier als Einziger die Wahrheit gefressen habe, das Äußere muss irgendwie doch äußerst wichtig sein, sonst fänden es doch nicht alle so überaus wichtig!
Wie gesagt, beinahe hat man mich überzeugt – Aber wir als Familie haben seit der Geburt unserer letzten Tochter ein sehr einschneidendes Erlebnis erlebt. Manch einer mag seine Lebenszeit in „vor“ und „nach“ Corona einteilen, aber Corona war selbst in seinen wildesten Auswüchse eine kaum vergleichbare Veränderung unserer Lebenssituation, als die Geburt eines Kindes mit mehreren Fehlbildungen. Es gibt für uns nun nur noch die Zeit „vor“ und „nach“ Linda.
Wenn ich nun einen gewissen Aspekt an ihrem Leib erwähnen muss, dann nicht um sie bloßzustellen, sondern weil es einen äußerst lehrreiches Element für mich bezüglich der Frage nach dem Äußeren enthält. Auch der beständige Apell doch auch auf das so wichtige Äußere zu achten, kennt die Phase „vor“ und „nach“ Linda. Lasst mich erklären, warum:
Unter anderem hat Linda auch eine missgebildete Ohrmuschel und kann auf einem Ohr höchst wahrscheinlich nichts hören. Es hat uns als Familie immer wieder geschmerzt, als wir bemerkt haben, dass genau die Fehlbildung der Ohrmuschel unsere Mitmenschen besonders beschäftigt. Schließlich sei sie ja ein Mädchen, und wird schön aussehen wollen, aber vielleicht kann man die Frisur dann „offen“ tragen, so dass die Ohrmuschel verdeckt ist – Ich schweige darüber, dass die Idee auch von Leuten geäußert wurde, die eigentlich mit offenen Haaren ein Problem haben.
Da es möglich ist, dass einige Menschen, die mit uns über die Ohrmuschelfehlbildung sprachen auch diesen Artikel lesen werden, muss ich hier an der Stelle eine Sache klar stellen: Weder fanden wir diese Vorschläge offensiv oder angreifend, noch stören wir uns daran, dass man das Thema der Fehlbildungen überhaupt bespricht. Das war wirklich gut, das wir offen reden können. Ich möchte noch nicht einmal so klingen, als wäre es mir egal wie das Ohr von Außen aussieht. Natürlich würden wir uns ein wohlgeformtes Ohr wünschen – Habt ihr übrigens gewusst, dass in den frühen Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts für das Profiling eines Verbrechers auch das Aussehen der Ohrmuschel ein entscheidender Faktor war (vergleichbar mit dem Fingerabdruck): Kein Ohr gleicht dem gleichen! Uns ist das erst seit der Geburt Lindas bewusst geworden, wer dass in einem Krimi verarbeitet finden möchte, greife zu Georges Simenon: Pietr, der Lette.
Aber eine Wohlgeformte Ohrmuschel ist äußerst wenig im Vergleich zu der Fähigkeit zu hören: Hätte ich die Wahl zwischen der Fähigkeit zu hören (auf beiden Ohren) oder wohlgeformten Ohrmuscheln zu wählen, fiele mir die Entscheidung leicht. Man könnte ja nun einwenden: Man hat ja zwei Ohren, und sie hört ja bereits am anderen! Und dass ist tatsächlich deswegen ein berechtigter Einwand, weil uns ja eine andere Fehlbildungen des Kindes, die man von Außen überhaupt nicht wahrnimmt, noch viel mehr beschäftigt : Das einer eine nicht funktionierende Speiseröhre hat, das nimmst du nicht von außen war, das ist selbst mit technischen Mitteln gar nicht so schnell feststellbar! Man kann von Außen einwandfrei aussehen, aber nicht lebensfähig sein. Und selbst wenn die Speiseröhre zusammengenäht ist, ist damit noch nicht gesagt, dass man anfängt zu essen…
Ein Perfektes Äußeres, aber keine Lebensfähigkeit! Das wurde uns bewusst, als wir eine Mitleidensgenossin Lindas kurz nach ihrem Tod besucht haben: Ein Baby, fast genauso alt wie Linda, ist mit etwa 4 Monaten verstorben, weil Sie ohne Geräte wie künstliche Beatmung und Ernährung über Sonde nicht leben konnte. Als wir sie so sahen, da war sie noch warm, mit rosigen Bäckchen: Ein perfektes Baby, so eins was man in den Werbungen sehen kann. Es gab äußerlich nicht auch nur einen Mangel wahrzunehmen, einfach perfekt. Und doch hat all dieser Perfektion etwas Gravierendes gefehlt: Die Fähigkeit zu leben. „Innerlich“ im Nervensystem des Kindes hat so gut wie gar nichts gestimmt, es hätte sich nie entwickeln können, nie selbstständig essen oder ohne technische Hilfsmittel sogar atmen können.
„Nach Linda“ ziehen für mich die endlosen Klagelieder „wie wichtig“ doch all das Äußere schließlich sei, einfach nicht mehr. Ich glaube gar, dass ich eine Gegenthese anstimmen muss: Warum ist uns all das Äußere derart wichtig, über alle Banken hinweg, von der konservativsten Ecke bis zum liberalsten Christ? Warum jagen wir nach äußerer Perfektion und vermodern an unserem inneren Menschen? Welche Hütte bleibt? Was bleibt an unserer Gestalt, was bleibt von unserem wohlgepflegten Äußeren nur in wenigen Jahren? Wie macht uns das alles auch nur ein Stückchen angenehm vor Gott? Und um hier noch etwas deutlicher zu werden: Oh ja, ich habe sie erlebt, nicht nur gelegentlich, sondern immer wieder: Christen, die natürlich ganz konform sind mit allen üblichen Sitten, Gebräuchen und Praktiken der Ortsgemeinde aber weder mit Gott noch mit Jesus auch nur ein Stückchen, auch nur ein ganz klein wenig etwas anfangen können. Und keiner sagt auch nur ein Wort dazu, denn schließlich ist ja „von außen alles in Ordnung“.
“Denn wir wissen, dass, wenn unser irdisches Zelthaus zerstört wird, wir einen Bau von Gott haben, ein nicht mit Händen gemachtes, ewiges Haus in den Himmeln.” (2. Korinther 5,1)