“Da kam Jesus und fand Lazarus schon vier Tage im Grabe liegen. Viele Juden aber waren zu Marta und Maria gekommen, sie zu trösten wegen ihres Bruders. Als nun Maria dahin kam, wo Jesus war, und sah ihn, fiel sie ihm zu Füßen und sprach zu ihm: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr kamen, ergrimmte er im Geist und erbetet und sprach: Wo hat ihr ihn hingelegt? Sie sprachen zu ihm: Herr, komm und sieh! Und Jesus gingen die Augen über. Es war aber eine Höhle und ein Stein lag davor. Jesus spricht: Hebt den Stein weg! Da hoben sie den Stein weg (…) und Jesus rief mit lauter Stimme: Lazarus komm heraus! – Doch Lazarus wollte nicht…”
Könnte es sein, dass wir dem Willen Gottes, als unwiderstehlichen Imperativ eines Souveräns zu wenig Beachtung schenken? Ich meine, wenn Gott befiehlt, kann man dann widerstehen? Mein obiges Beispiel klingt geradezu profan, wenn ich das niederschreibe und ich fühle mich (wahrscheinlich wie ein beachtlicher Teil der Leser) nicht sonderlich gut dabei, ein fiktives Ende anzunehmen. Doch ein Gedankenexperiment sei gestattet. Nachdem Jesus alles tut, um ein großartiges Wunder zu ermöglichen, gebraucht Lazarus seine persönliche Entscheidung und sagt: “Herr Jesus, Ich möchte lieber nicht! Sterben ist doch mein Gewinn! Und das Einzige was mich jetzt erwartet, wenn ich tot bleibe, ist eine selige Auferstehung! Was will ich noch wieder in dem elenden Erdenleben in einem Drittwelt-Land mitten unter einer Römischen Weltherrschaft” Ich glaube so klingt ein Nein von Lazarus nicht nur verständlich, sondern sogar vernünftig. (!?)
Ja ich weiß, ich bin hinterhältig! Ich gebrauche eine Situation eines Menschen, in der nicht bloß sein Wille (bereits?) tot war. Immerhin klärt uns ja niemand geringeres als Dr. Leighton Flowers (USA) darüber auf, dass wir bei der Lazarus Erzählung (unbedingt?) beachten sollen: “Im Übrigen gibt es in der Bibel keine einzige Stelle, an der der Tod und die Auferstehung des Lazarus mit unserer persönlichen Errettung in Verbindung gebracht wird”. (Als stünde bei Gottes Imperativ nicht viel Größeres auf dem Spiel als unsere Errettung, nämlich die Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit Gottes) So lassen wir diesem Mann seine Ehre und betrachten doch ein paar andere Beispiele:
Jesus spricht zu einem Mann mit einer verdorrten Hand (Beachte: es stand zu diesem Zeitpunkt einiges auf dem Spiel. Immerhin war Jesus zu diesem Zeitpunkt von einer ganzen lauernden Horde von Kirchenoberen umgeben, die das Ergebnis kaum abwarten konnten. Es dürfte für sie schwierig sein, festzulegen, was sie eigentlich mehr wollten: Eine gesunde Hand, um den Vorwurf des Sabbatbruchs zu erheben, oder eine weiterhin verdorrte Hand, um über die Einschränkungen des angeblichen Messias zu spotten). Auf jeden Fall sagt, Jesus zu diesem Mann: Strecke deine Hand aus! (Mrk. 3,5). Und er tut es! Was wäre passiert, wenn er gesagt hätte: Ne, möchte ich nicht?
Oder einige Jahre zuvor: Ein Engel besucht ein junges Mädchen, eine Jungfrau und berichtet ihr, dass sie eine ganz herausragende Rolle beim Heilsplan Gottes spielen sollte. Der Heilige Geist sollte sie überschatten, sie würde schwanger werden und ein Kind gebären, welches sie Jesus nennen soll. Doch statt “Ich bin des Herrn Magd, mir geschehe, wie du gesagt hast” (Luk. 1,38) sollte Maria nun sagen (ich traue mich an dieser Stelle nur an den Konjunktiv): “Ne, ich möchte lieber nicht”. Nur um das Gedankenexperiment weiterzuspinnen: Gäbe es dann keine Fleischwerdung des Sohnes Gottes? Und somit auch weder Kreuzigung, noch Sterben, noch Auferstehen noch Himmelfahrt des Christi? Wer jetzt denkt, dass ich auf eine römisch-katholische Weise durchdrehe, dem sei erklärt, dass ich genau dieses Beispiel in einem konservativ-evangelikalen Kontext erlebt habe: Der Pastor lobte den Gehorsam Marias und wurde müde davon, allen deutlich zu machen, dass wir ohne die Geistlichkeit Marias niemals unseren Heiland bekommen hätten. Übrigens: Man staune, keiner drehte beim Zuhören durch.
Immerhin muss man diesem “Pastor” eingestehen, dass er seine Theologie zu Ende gedacht hat. Aber mal im Ernst: Wie sieht ein Ausweg aus diesem Dilemma aus? Hat Gott alle Jungfrauen Israels vor sich gehabt und hat gezielt nur jener den Auftrag erteilt, von der er wusste, sie würde Gottes Plan zustimmen? Gibt es also (zumindest theoretisch und im Gottes Vorherwissen) eine ganze Menge Marias, die deswegen ausgeschieden sind, weil sie Nein gesagt haben (oder hätten, wenn sie denn könnten)? Und weil Sie Nein gesagt haben (oder hätten, wenn sie könnten), haben sie dann keine Rolle mehr im Plane Gottes gespielt und entsprechend berichtet die Bibel nichts mehr über die. Berichtet die Bibel also nur über die “Erfolgsfälle” Gottes? Heilt Jesus den Mann mit der verdorrten Hand, von dem er weiß, dass er seine Hand auch ausstrecken wird? Da man hier um jeden Preis eine Vorherbestimmung Gottes vermeiden möchte, greift man bereitwillig zu diesen verrückten Verrenkungen. Dabei wird das Problem, dass man so gerne beseitigen möchte, doch nur verschoben: Warum besitzt eine der ganzen Marias diese besondere Veranlagung “ja zu sagen”? Warum all die anderen nicht? Oder, angenommen, die Situation sieht eigentlich anders aus, und es ist nichts Besonderes dabei, sondern geradezu etwas natürlich zu Gott “Ja” zu sagen, mit Gottes Imperativ im Einklang zu sein (Wer würde immerhin nicht wollen, dass seine Hand gesund würde?), wenn also der “Gehorsam gegen Gottes Wort” etwas ganz natürliches, selbstverständliches ist, warum machen wir dann alle einen solchen Aufriss um diesen “vorbildlichen Gehorsam”? Maria im Übrigen hat für solche Theorien nicht viel übriggehabt und wusste, dass es eine Gunst Gottes ist, die sie erfuhr. Warum sollte sie sonst singen: “denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen?”(Luk. 1,48).
Nun mag man Maria im Evangelikalismus vernachlässigen, was man aber z.B. mit Abraham nicht tut. Ich kann von mindestens fünf Fällen berichten, in denen ich gehört habe, wie man Gottes Befehl an Abraham, sein Land zu verlassen (1. Mo. 12,1) wegeerklärt: Hier handele es sich um das “positive Beispiel, den idealen Fall”. Wir können nur darüber spekulieren, so heißt es, zu wie vielen Menschen der Ära Abrahams Gottes Ruf erscholl. Womöglich waren es ganze Heerscharen. Doch Abraham folgt (und im Übrigen nur er allein, ok und ein bisschen noch Lot)! Und um fortzuführen: Bekanntlich folgt er und folgt er und folgt er! Und wie gut, dass er sogar auf den Berg Moria folgt, wie wäre uns sonst die Verheißung eines Messias bestätigt worden? Doch auch hier, die gleichen Fragezeichen, wie bei Maria: Warum sollte gerade Abraham mit einer besseren Veranlagung ausgestattet gewesen sein? Wer hier einwendet, dass es möglicherweise an seiner “christlich-guten Herkunft” (immerhin ein Nachkomme Sems und überhaupt ein Nachkomme einer offensichtlich bekannten Linie, lass uns doch auf Jos. 24,2-3 mal pfeifen) liege, verschiebt das Problem ebenfalls, ohne es zu lösen: Wieso besaß gerade Abraham diesen Vorzug einer solch guten Erziehung, die ihn zu einem “Ja Gott gegenüber” eher veranlagte? Was ist mit den ganzen anderen Babyloniern und Götzendienern (wie gesagt Jos. 24,2-3)? Oder andersherum gefragt: Wenn dieser Gehorsam Abrahams wiederum kein besonderes, sondern eigentlich ein natürliches Verhalten ist, zu dem alle Ja gesagt hätten, wenn Gott sie nur rufen würde, warum bewundern wir dann so sehr seinen Gehorsam?
Der Göttliche Imperativ ist unwiderstehlich und wird offensichtlich doch gerne entkräftigt. Oder hätten die Sterne sagen können, nein wir wollen nicht erschaffen werden? Und das Licht, nein ich möchte nicht sichtbar sein? Und das sind wieder nur die Augenfälligsten Beispiele. Was ist mit der letzten Stunde oder dem Abgrund des Feuerofens? Besser eine andere Stunde und ein nicht so feuriger Feuerofen? Wurde Pfingsten nur durch den Gehorsam der Jünger, in Jerusalem zu bleiben, ermöglicht (Apg.1.4)?
- Trueman schreibt in Grace Alone: (hier meine schwache Übersetzung, Original ganz unten:)“Im ganzen Alten Testament bleibt Gottes Sprache der grundlegende Modus seiner Handlungen, seiner Umformung der Realität oder der Erschaffung neuer Dinge. Er ruft Abraham und gibt ihm ein Bundesversprechen. Er ruft Mose aus dem brennenden Busch. Er spricht zu Mose und gibt ihm das Gesetz (…)”
An dieser Stelle verteidigt Trueman die enge Verbindung der Predigt als Mittel der Gnade. Das es gerade Gottes Wort ist, das wirkt ist eine zentrale Wiederentdeckung der Reformation. Ist nicht Christus auch das Wort? Das die Evangelien Christus und das Wort Gottes “eng verknüpft” (mir fällt kein besserer theologischer Begriff ein) darstellen, dürfte jedem Bibelleser schnell deutlich werden. Trueman schreibt weiter: “Nicht alle der Machttaten Jesu sind linguistisch, doch die meisten. Das Wort, war das Mittel, bei dem Christus seine Macht demonstrierte und die Gnade in das Leben Einzelner brachte”
Im Übrigen, spüren wir Menschen bis heute diese kreative Macht des Wortes. Jeder, der schon mal verbal niedergemacht wurde oder es selber andere niedermachte, kennt um die zerstörerische Wirkung des Wortes. Wir wissen darum, das Worte manipulativ, beherrschend, zerstörend aber eben auch motivierend, erbauend und befreiend sein könnten. Nicht umsonst entstehen ganze Konflikte um die Meinungsfreiheit. Sollte Gottes Wort im Vergleich zu unserem weniger bindend sein? Im Besten Fall ein unverbindliches, auf keinen Fall drängendes Angebot (obwohl natürlich nur zu unserem besten), zu dem wir “Ja” zu sagen haben, um “zu aktivieren”? Wer besitzt dann die wirkliche Gewalt des Wortes?
Und genau darum ist der göttliche Imperativ für mich ein Trost und eine Ermutigung. Wenn Gott befiehlt, ist es nicht bloß eine Empfehlung! Dieses Wort hat Macht. Wenn Gott befiehlt: “Seid Heilig!” (Immerhin ein Ausrufezeichen am Schluss), dann darf ich aus diesem Befehl Hoffnung ziehen, dass er wirksam wird. So wie die verdorrte Hand Jesu Worten nicht widerstehen konnte, so wird auch mein Kadaver dem “Seid Heilig!” – Aufruf Gottes folgen können. Augustinus brachte das wunderbar zusammen, als er in seinen Bekenntnissen wiederholt schrieb: „Gib, was du befiehlst, und befiehl, was du willst”. Wenn Gott also seinem Volk Befehle verteilt (und dass tut er, entgegen anderslautenden Behauptungen, auch im Neuen Testament nicht zu knapp), dann möchte er sein Volk auch mit der Kraft ausrüsten, diese auszuführen. Wundervoll verknüpft das Eph. 5,14. Eingebettet in zahlreiche moralische Imperative heißt es plötzlich (es ist mir bisher nicht klar geworden, was genau Paulus hier zitiert, aber offensichtlich etwas in der Gemeinde bekanntes): “Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten”. Das ein Toter nicht einfach so auferstehen kann, dass wissen wir auch so. Dafür benötigen wir kein Interview mit Lazarus Ein Kommentator schreibt zu dieser Stelle passend (Ian Hamilton, Ephesians): “Eine angebrachte Stelle, dass Paulus uns erinnert, dass Christus das Licht ist, dass die verändernde Gnade und die Macht der Wahrheit Gottes in unser Leben scheinen lässt. Jesus ist das Evangelium. Er ist nicht von den Segnungen trennbar, die das Evangelium bringt. All diese Segnungen können “nur in Christus” gefunden werden.”
Fazit: Der Göttliche Imperativ ist also weniger wegen unserem Autonomieverlustes zu fürchten, als wegen seiner befreienden Macht zu suchen.
Hier noch das versprochene Originalzitat: “This creative power of speech is not restricted to the early chapters of Genesis. Throughout the Old Testament, God’s speech continues to be the primary mode of his action and to reshape reality or to bring new things into being. He calls Abraham and gives him a covenant promise. He calls to Moses from the burning bush. He speaks again to Moses on Sinai and gives him the law. Significantly, Heinrich Bullinger refers to this as “preaching.” “In the mount Sina [sic] the Lord himself preached to the great congregation of Israel, rehearsing so plainly, that they might understand those ten commandments, wherein is contained every point of godliness.”
Trueman, C. R., Barrett, M., & Hughes, R. K. (2017). Grace alone—salvation as a gift of god: what the reformers taughts…and why it still matters (S. 179). Grand Rapids, MI: Zondervan.