Eine Erfahrung im Leben, die langbleibende Eindrücke hinterließ, war die Möglichkeit orthodoxe Juden zu besuchen und mit ihnen zu sprechen. Einmal durfte ich sogar mit einem Holocaust-Überlebenden an einem Tisch sitzen. Das hatte schon etwas Bewegendes. Der Sohn dieses Mannes war Rabbi und zu Besuch bei einem anderen Juden, der sich brennend für die Torah interessierte. Durch ungewöhnliche Führung, auf die hier einzugehen nur den Erzählfluss unterbrechen würde, waren auch wir als Familie dabei. Ich war thematisch hilflos überfordert, wollte aber nicht die Gelegenheit verpassen, möglichst viele Fragen über das Judentum loszuwerden. Also plauderte ich munter drauf los und stellte Fragen „zum Alten Testament“ und zur jüdischen Haltung zum Messias. Als ich darauf zu sprechen kam, warum wir als Christus unser Leben Jesus anvertrauen, war die bis dahin äußerst gastfreundliche Umgebung schnell zu Ende und wir wurden darauf aufmerksam gemacht, dass wir nun bald aufbrechen sollten.
Die ganze Begegnung ist schon einige Jahre her, im Zwischenmenschlichen habe ich etwas dazu gelernt. Heute würde ich deutlich respektvoller mit meinen Gesprächspartnern sein. Statt vom „Alten Testament“ würde ich vom Tanach, Torah oder der Heiligen Schrift sprechen, ich würde auch gezielter einzelne Thesen meiner jüdischen Gesprächspartner verfolgen und z.B. beim Thema Messias zunächst einmal verstehen wollen, welchen Messias Juden erwarten.
In Kürze, das Gespräch würde wahrscheinlich viel wohlwollender und harmonischer verlaufen, vielleicht hätte ich sogar ein Lob für die „Begegnung im gegenseitigen Respekt“ einkassiert.
Dennoch würde gerade diese Form der Gesprächsführung kaum etwas über den Inhalt meiner eigenen Position verraten. Denn während meiner ersten Begegnung begegnete ich Juden mit einem unter evangelikalen Christen häufig verbreiteten dispensationalistischen Enthusiasmus. (Einschub: Der vorhergehende Satz kann durchaus ein Beispiel für inhaltverhüllende Form sein . Nur wer weiß, was “dispensationalistischer Enthusiasmus” meint, dürfe dann mitreden. Sicherlich missbrauche ich Form allzu oft als Schutz vor ungewollten Diskussionen). Juden waren in meinen Gedanken so etwas wie eine Vorstufe zu Christen und befanden sich eigentlich (wenn die Uhr der Endzeit weitergeschritten hätte) kurz vor einer glorreichen Zeit mit Christus.
Diese Begegnung mit Juden brachte mich jedoch zu einer gründlicheren Analyse der Thematik und heute betrachte ich das Verharren in der jüdischen Religion als Abfall von Christus. Das ist DAS Thema des Hebräerbriefs: Wer zurückkehrt zu Opfern und Tempeldienst oder zu einem veränderten Jesus oder zu einem großen Mose der fällt (womöglich dann endgültig) ab.
Somit: Trotz einer viel geschickteren, gereifteren Gesprächsform wäre der Inhalt meiner Haltung ein viel kritischer
Damit will ich gar nicht sagen, dass die Form gar keine Rolle spielt. Wenn Paulus in 1. Kor 3,1 den Korinthern schreibt, dass er mit Ihnen nicht wie mit Geistlichen, sondern wie „mit jungen Kindern in Christo“ reden musste (vgl. Röm 3,5), dann gibt er einen Einblick darauf, wie er immer die geeignete Form der Inhaltsvermittlung gesucht hat. Ja er ist den Juden ein Jude und den Heiden ein Heide geworden (1 Kor. 9,20). Meine alte Lutherbibel hat 1. Kor. 5,11 so schön wiedergegeben: „Dieweil wir denn wissen, dass der Herr zu fürchten ist, fahren wir schön mit den Leuten…“. Die Form hat schon ihren Platz Aber es ist auch wiederum der erste Korintherbrief der einen Einblick darauf gibt, wie Paulus eben nicht die Form über den Inhalt dominieren lässt) Nicht in hoher Weisheit kam Paulus (1. Kor. 2,4) und erst recht nicht eine Weisheit dieser Welt (V. 6), ja es ist für Juden Torheit, und Paulus verkündigt törichte Predigt (1. Kor. 1,21).
In unserer Zeit spielt die Form eine viel zu große Bedeutung. Es lassen sich genug Politiker finden, die sich mit geschickter Rhetorik als „konservativ“ vermarkten, während sie längst für linke und grüne Ideen offen sind.
Wir sind verantwortlich, uns nicht von der Form blenden zu lassen. Bekanntlich lehren uns die Sprüche, „Lieblich und schön sein ist nichts, eine Frau, die den Herrn fürchtet, soll man loben“ (Spr. 31,30)
Wenn die Korinther Paulus bloß wegen der mangelnden Rhetorik, wegen ungenügender Schönrednerei verwarfen, wie töricht handelten sie da (ich deute z.B. 2 Kor. 10,10 in diese Richtung, vgl. auch 2. Kor. 13,10+1. Kor, 4).
Also nur „harter Klartext“? Nein, denn das wäre ja auch Bindung an eine bestimmte Form. Auch „Prediger, die mal so richtig Klartext sagen“, finden ausreichend Zuhörer, die sie bloß deswegen hören, weil sie das sagen, „wonach ihre Ohren jucken“. Es gibt diese Zuhörer, die einfach nur den einen Trigger-Satz hören wollen. Kommt dieser, dann war die Botschaft gesegnet. Fehlt er, hätten sie gleich im Bett liegen bleiben können (und vice versa: Kommt die eine anstößige Phrase, der eine unpassende Satz, denn meinen sie alles Recht der Welt zu besitzen, über das Gehörte die Nase zu rümpfen).
Das Problem scheint viel größere Kreise zu ziehen: Bekanntlich hat man erst etwas verstanden, wenn man es so ausdrücken kann, dass es auch ein Kind versteht. Und dennoch kann man Unwissenheit sehr geschickt in umfangreichem Vokabular verstecken (ein Problem, dem ich auch häufig anfalle: Da steht etwas glasklar in der Bibel, und zack mache ich eine verkopfte Theologie draus).
Eine kunstreiche Form kann auch ein Hinweis sein auf fehlende Substanz, mangelhaften Inhalt. Wer große Taten folgen lässt, braucht keine großen Worte zu machen. Wer ist hier größeres Vorbild als Jesus Christus, unser Herr und Meister?
Ich habe das auf eine bewegende Weise erlebt: Als ich vor einigen Jahren die Gnadenlehre entdeckt habe, habe ich zunächst sehr häufig angeeckt. Viele meiner Thesen wurden als sehr provozierend aufgenommen und es gab auch regelmäßig Krach. Dabei war ich mir selber in manch einer Frage gar nicht so sicher. Aber je sicherer ich mir in meiner Position wurde, desto gelassener, ruhiger, stiller, desto leichter fiel es zwischen wichtig und unwichtig, zwischen nötig und unnötig zu unterscheiden. Nach außen wirkt es so, als wäre ich mir „nicht mehr so sicher“, die Realität ist dabei ganz anders.
Mir ist ein Text von Sören Kierkegaard in den Sinn gekommen (aus: „Zwei ethisch-religiöse kurze Abhandlungen ..“), der diesen Gedanken sehr pointiert ausdrückt und uns deutlich macht, warum es wichtiger ist, sich auf Inhalt, statt auf die Form zu konzentrieren:
„Denn Verschwiegenheit und Kraft zu handeln, entsprechen einander ganz; Verschwiegenheit ist Maßstab für die Kraft zu handeln; ein Mensch hat niemals mehr Kraft zu handeln, als Verschwiegenheit hat. Jeder Mensch versteht ganz gut, das Handeln etwas weit Größeres ist als darüber zu reden; ist er deshalb seiner selbst sicher, dass er es tun kann, und hat er beschlossen, dass er es tun will, so redet er nicht darüber. Worüber ein Mensch in Verbindung mit seinem Handeln redet, ist just das, worin er seiner selbst nicht sicher ist. Ein Mann der sich mit Leichtigkeit selbst überwindet, den Armen zehn Taler so zu geben, dass es ihm ganz natürlich fällt – so , hier haben wir es – , dass man darüber nicht zu reden braucht. Er redet nie darüber. Aber, vielleicht wirst du ihn sagen hören, dass er einmal den Armen tausend Taler zu geben gedenke – ach, die Armen werden gewiss mit zehn zufrieden sein müssen (…) Dies Gesetz ist ganz einfach, im Verhältnis zum Bösen ist es so: Hast du einen Verdacht au feinen Menschen, der dir teuer ist, dass er möglicherweise mit dem einen oder andern furchtbaren Gedanken umgehe: so sieh bloß zu, ihn zum Sprechen zu bringen, am besten so, dass du es ihm ablockst, als wäre es bedeutungslos, so dass nicht einmal im Augenblick der Mitteilung das Pathos der Vertraulichkeit entsteht.“