Worum geht es in Römer 9?
Ein Artikel von John Piper, The Absolute Sovereignty of God vom 03.11.2002. Übersetzt von Viktor Zander. Download als .pdf
Ich sage die Wahrheit in Christus, ich lüge nicht, wobei mein Gewissen mir Zeugnis gibt im Heiligen Geist, dass ich große Traurigkeit habe und unaufhörlichen Schmerz in meinem Herzen; denn ich selbst, ich habe gewünscht, verflucht zu sein von Christus weg für meine Brüder, meine Verwandten nach dem Fleisch; die Israeliten sind, deren die Sohnschaft ist und die Herrlichkeit und die Bündnisse und die Gesetzgebung und der Gottesdienst und die Verheißungen; deren die Väter sind und aus denen dem Fleisch nach der Christus ist, der über allem ist, Gott, gepriesen in Ewigkeit. Amen. (Römer 9,1-5)
Es gibt zwei Erlebnisse in meinem Leben, die Römer 9 zu einem der wichtigsten (wenn nicht sogar zu dem wichtigsten) Kapitel in der Bibel machen, und zwar dahingehend, wie es die Art geformt hat, wie ich über alles denke, und wie ich in den Dienst geführt wurde. Eines spielte sich im theologischen Seminar ab und stellte meine Gedankenwelt auf den Kopf. Das andere Erlebnis geschah im Herbst 1979 und führte dazu, dass ich zum Dienst in diese Gemeinde kam.
Selbst-bestimmte Freiheit
Als ich das Seminar besuchte, glaubte ich an die Freiheit meines Willens im Sinne von schlussendlicher Selbstbestimmung. Ich hatte das nicht aus der Bibel gelernt. Ich hatte das aus der selbstgenügsamen, selbstachtenden, selbsterhöhenden Luft aufgenommen, die du und ich in Amerika jeden Tag einatmen. Die Souveränität Gottes bedeutete für mich, dass er alles mit mir tun konnte, was ich ihm zu tun erlaubte. Mit dieser Geisteshaltung kam ich in einen Kurs über den Philipperbrief von Daniel Fuller und in einen Kurs über die Errettung von Jaymes Morgan.
Im Philipperbrief standen die hartnäckigen, grundlegenden Sätze in Philipper 2,12-13 vor mir: „Bewirkt euer Heil mit Furcht und Zittern! Denn Gott ist es, der in euch wirkt, sowohl das Wollen als auch das Wirken zu seinem Wohlgefallen.“ Diese Sätze schrieben Gott das Wollen hinter meinem Wollen und das Tun hinter meinem Tun zu. Die Frage war nun nicht: Habe ich einen Willen? Die Frage lautete stattdessen: Warum will ich das, was ich will? Und die schlussendliche Antwort (nicht die einzige Antwort) war Gott.
Im Kurs über Errettung beschäftigten wir uns mit den Lehren der bedingungslosen Erwählung und der unwiderstehlichen Gnade. Römer 9 war der Text, der ein Scheideweg war und der mein Leben für immer veränderte. In Römer 9,11-12 heißt es: „Denn als die Kinder [Jakob und Esau] noch nicht geboren waren und weder Gutes noch Böses getan hatten – damit der nach freier Auswahl gefasste Vorsatz Gottes bestehen bliebe, nicht aufgrund von Werken, sondern aufgrund des Berufenden -, wurde zu ihr [Rebekka] gesagt: ‚Der Ältere wird dem Jüngeren dienen‘.“
Paulus wirft in V. 14 folgende Frage auf: „Was sollen wir nun sagen? Ist etwa Ungerechtigkeit bei Gott?“ Er antwortet mit Nein und zitiert (in V. 15) Mose: „Ich werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarme, und werde Mitleid haben, mit wem ich Mitleid habe.“ Dann wirft er in V. 19 folgende Frage auf: „Warum tadelt er noch? Denn wer hat seinem Willen widerstanden?“ Er antwortet in V. 21: „Oder hat der Töpfer nicht Macht über den Ton, aus derselben Masse das eine Gefäß zur Ehre und das andere zur Unehre zu machen?“
Die Gefühle brodeln sehr schnell über, wenn du spürst, wie deine mensch-zentrierte Welt um dich herum zusammenbricht. Eines Tages traf ich auf dem Flur Dr. Morgan. Nach einigen Minuten hitziger Diskussion über die Freiheit meines Willens, hielt ich einen Stift vor sein Gesicht und ließ ihn auf den Boden fallen. Mit viel weniger Respekt als ihn ein Schüler haben sollte, sagte ich: „Ich (!) habe ihn fallen gelassen.“ Irgendwie sollte das beweisen, dass meine Entscheidung, den Stift fallenzulassen, durch nichts Anderes beherrscht wurde als durch mein souveränes Ich.
Aber dank Gottes Barmherzigkeit und Geduld schrieb ich am Ende des Semesters folgende Worte in mein blaues Studien-Notizbuch: „Römer 9 ist wie ein Tiger, der umhergeht und Anhänger des freien Willens wie mich verschlingt.“ Das war das Ende meiner Affäre mit der Autonomie des Menschen und der schlussendlichen Selbstbestimmung meines Willens. Mein Weltbild konnte der Schrift und besonders Römer 9, nicht standhalten. Und es war der Beginn einer lebenslangen Leidenschaft, die alles überragende Stellung Gottes in absolut allem zu sehen und zu schmecken.
Bewundert und nicht nur analysiert
Dann, etwa 10 Jahre später, kam der Herbst 1979. Ich war in meinem Lehr-Sabbatical am Bethel College. Ich verfolgte ein Ziel bei dieser Auszeit: Ich wollte Römer 9 studieren und ein Buch darüber schreiben, das in meinem eigenen Denken die Bedeutung dieser Verse ein für alle Mal klären würde. Nach sechs Jahren des Lehrens habe ich herausgefunden, dass in jeder Klasse viele Studenten bereit sind, meine Auslegung dieses Kapitels aus irgendeinem Grund zu verwerfen. Ich beschloss, mir acht Monate Zeit dafür zu nehmen. Das Ergebnis dieses Sabbaticals war das Buch „The Justification of God“[1]. Ich versuchte, alle wichtigen exegetischen Einwände gegen Gottes Souveränität in Römer 9 zu beantworten.
Aber das Ergebnis dieses Sabbaticals war völlig unerwartet – zumindest hatte ich es so nicht erwartet. Mein Ziel war, Gottes Worte so genau zu analysieren und sie so sorgfältig auszulegen, dass ich ein Buch schreiben könnte, das überzeugend wäre und den Test der Zeit bestehen würde. Eines habe ich nicht erwartet: Dass nach sechs Monaten der Analyse von Römer 9 Gott selbst so machtvoll zu mir sprechen würde, dass ich meine Stelle bei Bethel kündigte und bei der Minnesota Baptist Conference vorsprach, ob es eine Gemeinde gäbe, die mich als Pastor nehmen würde.
Im Wesentlichen lief es wie folgt ab: Ich war 34 Jahre alt. Ich hatte zwei Kinder und ein drittes war unterwegs. Als ich Tag für Tag Römer 9 studierte, begann ich einen Gott zu sehen, der so majestätisch und so frei und so absolut souverän ist, dass meine Analyse sich in einer Anbetung Bahn brach und der Herr daraufhin sagte: „Mich kann man nicht einfach analysieren, mich muss man bewundern. Über mich kann man nicht einfach nachdenken, mich muss man verkündigen. Meine Souveränität kann nicht einfach überprüft, sie muss proklamiert werden. Sie ist kein Wasser auf die Mühlen der Streitgespräche, es ist die frohe Botschaft für Sünder, die wissen, dass ihre einzige Hoffnung der souveräne Triumph der Gnade Gottes über ihren rebellischen Willen ist.“ Zu dieser Zeit Ende 1979 kontaktierte mich Bethlehem. Und ohne Zögern sage ich, dass ich aufgrund von Römer 9 meine Lehrtätigkeit verließ und Pastor wurde. Der Gott von Römer 9 ist die felsenfeste Grundlage all dessen, was ich in den letzten 22 Jahren gesagt und getan habe.
Das Zeugnis von Jonathan Edwards über Gottes absolute Souveränität
Ich empfinde auf eine Weise über die Wahrheit der absoluten Souveränität Gottes über meinen Willen und über seine Gemeinde und über die Völker wie es auch Jonathan Edwards tat – auch wenn ich nicht über seine Fähigkeiten verfüge, Gottes Wahrheit zu sehen und zu schmecken. Ich lese die folgende Geschichte vor, weil es wohl die Geschichte vieler Menschen in dieser Gemeinde ist, und noch, so bete ich, die Geschichte vieler Menschen werden möge:
Von frühester Kindheit an war mein Denken voller Einwände gegen die Lehre der Souveränität Gottes darin, die zum ewigen Leben zu wählen, die er wollte, und die abzulehnen, die er wollte. So überließ er sie der ewigen Verdammnis und ewigen dauernden Qualen in der Hölle. Früher erschien mir das eine fürchterliche Lehre. Aber ich erinnere mich sehr gut an die Zeit, als ich scheinbar überzeugt und völlig zufrieden war hinsichtlich dieser Souveränität Gottes und seiner Gerechtigkeit, auf diese Weise, gemäß seinem souveränen Wohlgefallen, Menschen ewig zu verordnen [so mit ihnen umzugehen]. Niemals jedoch konnte ich berichten, wie, oder durch welche Mittel ich so überzeugt wurde, noch war es damals, und auch lange Zeit danach, im Geringsten vorstellbar, dass es irgendeinen außerordentlichen Einfluss des Geistes Gottes darin gab, sondern nur, dass ich nun weiter sah, und mein Verstand die darin liegende Gerechtigkeit und Vernünftigkeit erfasste. Mein Denken ruhte jedoch darin; und es machte ein Ende mit all dieser Kritik und all den Einwänden. Und es gab eine wundervolle Änderung meines Denkens, hinsichtlich der Lehre über die Souveränität Gottes, von jenem Tag an bis zu diesem; sodass ich, im absolutesten Sinne, kaum je so etwas wie das Aufkommen eines Einwandes dagegen gefunden habe, dass Gott sich dessen erbarmt, dessen er sich erbarmt, und verhärtet, wen er will. Gottes absolute Souveränität und Gerechtigkeit, hinsichtlich Errettung und Verdammung, ist das, worin mein Denken sicher zu ruhen scheint, ebenso sehr wie in allem, was ich mit meinen Augen sehe. Zumindest manchmal ist es so. Die Lehre erschien sehr oft überragend erfreulich, hell und süß. Absolute Souveränität ist das, was ich Gott zuzuschreiben liebe. (Jonathan Edwards, Selections, 58-59).
Eine kurze Übersicht über Römer 9
Das alles ist ein bisschen irreführend als Einleitung für Römer 9. Aber nur ein bisschen. Es könnte der Eindruck vermittelt werden, dass Römer 9 eine Abhandlung über die Souveränität Gottes ist. Ist es aber nicht. Römer 9 ist eine Erklärung dafür, warum das Wort Gottes nicht hinfällig geworden ist, selbst wenn Gottes erwähltes Volk Israel als Ganzes nicht zu Christus umkehrt und nicht gerettet wird. Die Souveränität der Gnade Gottes wird als letzter Grund für Gottes Treue trotz Israels Versagen ins Spiel gebracht, und damit als die tiefste Grundlage für die kostbaren Verheißungen aus Römer 8. Denn falls Gott seinem Wort nicht treu ist, können wir uns auch nicht auf Römer 8 verlassen.
Bedenkt diese kurze Übersicht. Vers 3 zeigt uns, dass Israel als Ganzes verflucht und von Christus abgeschnitten ist: „denn ich selbst, ich habe gewünscht, verflucht zu sein von Christus weg für meine Brüder, meine Verwandten nach dem Fleisch“. Nächste Woche werden wir uns mit den Argumenten des Paulus beschäftigen. Achtet jetzt nur darauf, dass dies die Notlage Israels ist: „verflucht und von Christus abgeschnitten“. Das wirft ein gewaltiges Problem auf! Was ist denn nun mit dem Wort Gottes – dem Wort der Verheißung an Israel und mit dem Bund: „Ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein.“ (Jer 31,33).
Also beantwortet Paulus diese Frage in Vers 6: „Nicht aber als ob das Wort Gottes hinfällig geworden wäre“. Ihr seht, was auf dem Spiel stand. Es sieht so aus, als wäre Gottes Wort hinfällig geworden! Aber Paulus verneint das. Dann gibt er die Erklärung, die ihn in die Lehren der bedingungslosen Erwählung und der göttlichen Souveränität über den Willen des Menschen hineinkatapultiert. Seine Erklärung in V. 6b lautet: „denn nicht alle, die aus Israel sind, die sind Israeliten“. Nicht das ganze physische Israel ist das wahre Israel. In anderen Worten: Die Worte Gottes sind niemals hinfällig geworden, weil die Verheißungen nicht dem ganzen ethnischen Israel auf eine solche Weise gegeben wurden, die die Rettung jedes einzelnen Israeliten sicherstellt.
Vers 8 wiederholt es: „Nicht die Kinder des Fleisches, die sind Kinder Gottes, sondern die Kinder der Verheißung werden als Nachkommenschaft gerechnet“. In anderen Worten: nicht alle physischen Nachkommen Abrahams sind die Empfänger der Bundesverheißungen. Wer dann? Und hier kommt Paulus direkt zur Grundlage der Erklärung. Was er sagt, ist: Die Empfänger der Verheißung sind die Kinder der Verheißung. Aber, so fragen wir, wer sind diese? Welche Bedingungen müssen sie erfüllen, um die „Kinder der Verheißung“ zu sein?
Die Antwort des Paulus mit der Veranschaulichung von Jakob und Esau in Vers 11, konfrontiert uns mit der letztendlichen Souveränität Gottes im Erwählen derer, welche die Empfänger der Verheißung sein werden. Bezüglich Jakob (der Erbe wurde) und Esau (der es nicht wurde) sagt Paulus: „Denn als die Kinder noch nicht geboren waren und weder Gutes noch Böses getan hatten [das ist die Bedingungslosigkeit, und hier folgt der Grund dafür] – damit der nach freier Auswahl gefasste Vorsatz Gottes bestehen bliebe [hier haben wir die Erklärung, die tiefer reicht als menschliche Bedingungen – Gottes souveränen Vorsatz], nicht aufgrund von Werken, sondern aufgrund des Berufenden [achtet darauf: er setzt nicht Werke in Gegensatz zum Glauben, sondern zum „Berufenden“ – nicht einmal der Glaube ist hier als Bedingung im Blick] -, wurde zu ihr [Rebekka] gesagt: ‚Der Ältere wird dem Jüngeren dienen‘“
All das wirft die Frage nach Gottes Gerechtigkeit auf. Paulus versteckt hier nichts. Er legt alles offen. In Vers 14 sagt er: „Was sollen wir nun sagen? Ist etwa Ungerechtigkeit bei Gott?“ Seine Antwort lautet nein. Und nachdem er Mose über Gottes Freiheit zitiert, dem barmherzig zu sein, dem er barmherzig sein will (Vers 15), wiederholt er in V. 16 die absolute Bedingungslosigkeit darin, von Gott erwählt zu sein, um ein Kind der Verheißung zu sein: „So liegt es nun nicht an dem Wollenden, auch nicht an dem Laufenden, sondern an dem sich erbarmenden Gott.“
Das führt dann zur Frage in Vers 19: „Warum tadelt er noch? Denn wer hat seinem Willen widerstanden?“ Das sind die Fragen, mit denen wir in diesem Kapitel konfrontiert werden. Ist das ganze Israel „die Kinder der Verheißung“, oder nur einige? Wenn nur einige, was ist es, dass einen Menschen zu einem Kind der Verheißung macht und einen anderen nicht? Wenn es letztendlich Gottes bedingungslose, freie Gnadenwahl ist, ist er dann ungerecht? Wenn er so frei ist, denen barmherzig zu sein, denen er barmherzig sein will, und die zu verhärten, die er verhärten will (Vers 18), und wenn es nicht vom menschlichen Willen oder vom menschlichen Laufen abhängt (Vers 16), warum tadelt er dann noch?
Die Aussage von Römer 9: Das Wort Gottes ist nicht hinfällig geworden
Ihr könnt also sehen, dass die Fragen der Erwählung Gottes und des Willens des Menschen, und der Gerechtigkeit Gottes, und der Schuld des Menschen, und der Souveränität Gottes alle in diesem Kapitel enthalten sind. Sie sind aber nicht um ihrer selbst willen da. Sie sind dafür da, diese brennende Frage zu erklären: Wie kann Gottes auserwähltes Volk Israel verflucht und von Christus abgeschnitten sein, wenn das Wort Gottes zuverlässig ist? Wie kann Vers 6a wahr sein: „Nicht aber als ob das Wort Gottes hinfällig geworden wäre“. Darum geht es in diesem Kapitel.
Werden die Verheißungen aus Römer 8 bestehen bleiben?
Und eines ist für uns absolut entscheidend, wenn wir zum Tisch des Herrn kommen. Werden die Verheißungen aus Römer 8 bestehen bleiben? Werden die mit Blut bezahlten Verheißungen bestehen bleiben, auf welche wir Heiden und Juden unser Leben bauen? Wird Gott zu seinen Zusagen stehen, die mit dem Blut seines Sohnes besiegelt sind? Wird er alle Dinge zu unserem Besten dienen lassen? Werden die Vorherbestimmten berufen, werden die Berufenen gerechtfertigt, und werden die Gerechtfertigten verherrlicht? Wird er uns mit ihm alles geben? Wird uns nichts von der Liebe Gottes in Christus trennen? Gibt es nun wirklich keine Verdammnis, und wird es morgen auch keine Verdammnis geben?
Römer 9 kommt aus diesem absolut entscheidenden Grund nach Römer 8: Es zeigt, dass das Wort des Bundes Gottes mit Israel nicht hinfällig geworden ist, weil es in Gottes souveräner, erwählender Barmherzigkeit gegründet ist. Deshalb werden die Verheißungen für das wahre Israel und die Verheißungen aus Römer 8 bestehen bleiben! Das ist die frohe Botschaft von Römer 9. Die durch das Blut Christi erkauften Verheißungen werden durch die souveräne Macht Gottes vollzogen.
Oh wie dankbar, wie demütig und wie zuversichtlich wir sein sollten, wenn wir den Herrn an seinem Tisch anbeten.
[1] Auf deutsch etwa: „Die Rechtfertigung Gottes“.