Gesellschaftskritik

Die Evangelikale Elite ist nicht mehr auf dem Laufenden

Ein Artikel von Carl R. Trueman:

Vor einigen Jahren schrieb ich ein kurzes  Buch, in dem ich erörterte, das Wählen im Vergleich zum Politischen Denken eher einfach ist. Man könne mit einigen Teilen eines Politischen Programms übereinstimmen, während man andere ablehnte. Doch an der Wahlurne, muss das Kreuzchen brutal und deutlich hinter dem einen oder dem anderen Namen eines Kandidaten gesetzt werden. – Keine Nuancen, keine “Wenn” und “Abers” gestattet.

In den letzten Jahren habe ich immer wieder über diesen Punkt nachgedacht, da sich Experten regelmäßig über das Thema der Evangelikalen Unterstützung für Trump geäußert haben. Nun kann ich nicht an der US-Wahl teilnehmen (da ich nur eine Green-Card besitze) und halte mich selbst nicht für einen Evangelikalen (obwohl ich einen Podcast für eine Gruppe mithoste, die diesen Namen verwendet). Doch mir erscheint die ganze Idee einer leidenschaftlichen und bedingungslosen Unterstützung für Trump von dieser eher nebulösen Gruppe der Evangelikalen in der Rethorik der öffentlichen Diskussion deutlich überspitzt zu sein. Ich lebe inmitten eines Trump Territoriums und kenne viele, die für Donald stimmten, von denen kaum einer dies mit Freude tat. Sie fühlten sich einfach nur von einer Demokratischen Partei verlassen, die sich mehr um Identitätspolitik kümmert, als um die armen Menschen. Es gab für sie in ihrer Begründung leider keine Alternative.

Das führt mich zu Mark Gallis vor kurzem erschienenen Editorial in Christianity Today. In einem leidenschaftlichen Appell beschwört er die Evangelikalen Donald loszuwerden. Tatsächlich ruft er nicht nur zu einer Amtsenthebung von Trump durch das Impeachment oder die nächste Abstimmung auf. Er erklärt vielmehr, dass es die moralische Pflicht eines jeden Christen sei, einen solchen Schritt zu unterstützen.

Es fällt schwer, die Beweise zu bemängeln, die er für seinen Standpunkt heranzieht. Trump ist ohne Zweifel nicht die Art einer Person, die man sich als Repräsentant seiner Nation wünscht. Seine Akte der Untreue, Schurkerei und unpassenden Verhaltens sind gut dokumentiert. Galli ist zudem wirklich konsistent an diesem Punkt und vermeidet die überraschende (und offensichtlich heuchlerische) Haltung, die von einigen Mitgliedern der Religiösen Rechten eingenommen wird, die Ehebruch zwar für Clinton, aber nicht für Trump als disqualifizierend ansieht. Sein Beitrag ist auch nicht Teil einer scheinheiligen Unterkategorie eines selbstbewussten Anti-Trump-Lärms, der von tragisch-komischen Evangelikalen stammt: Diese twittern beständig über die Privilegien der Weißen und über Frauenhass, während sie dazwischen den Check für die Elite-Privatschule ihrer Kinder unterschreiben und sich an Martinis und Manhattans im Country Club oder der Eröffnung der Kunstgalerie erfreuen. Es ist ein herzlicher Aufruf an die Evangelikalen ihre Unterstützung nicht einem Mann mit einem zweifelhaften Charakter zu geben.

Galli betrachtet die Situation als dringend: “Wenn wir den Kurs  nicht jetzt korrigieren, wird uns in den nächsten Jahrzehnten niemand mehr Ernst nehmen über das, was wir über Recht oder Gerechtigkeit sagen werden?”. Doch um die offensichtliche Frage zu stellen: Was ist die Alternative? Nun könnte diese Frage zu einem faulen rhetorischen Trick verkommen, eine Stimme für Trump zu rechtfertigen – oder für einen wie auch immer entarteten Status Quo. Doch ich beabsichtige einen ernsten Einwand: Wenn jemand dazu aufruft, das Amt von Trump zu entziehen, ist es vernünftig, nach Alternativen zu fragen. Da Mutter Theresa für das Weiße Haus nicht vorhanden ist, bleiben uns Biden, Warren oder Sanders. Ich kann nicht über die persönlichen moralischen Qualitäten dieser Leute sprechen, doch würde das Wählen dieser Menschen auf Grundlage ihres politischen Programms Christen mehr Glaubwürdigkeit verschaffen? Betrachten wir die Haltung zur Abtreibung und LGBTQ-Rechten in ihren Kampagnen, ist es sicherlich etwas, was jeder Christ ansprechen sollte.

Galli würde ohne Zweifel berechtigterweise einwenden, dass man Wahlen nicht in solch vereinfachten Termen betrachten kann. Eine Stimme für einen Demokraten deutet nicht mehr auf eine leidenschaftliche Hingabe für späte Abtreibungen hin, wie das Wählen von Trump bedeutet, dass man nun Ehebruch und Hurerei für eine akzeptable Lebensweise hält. Jede Stimmenabgabe – womöglich insbesondere die der Christen – enthalten einen Handel, einen Kompromiss und ein Ranking in der Wichtigkeit moralischer Prioritäten, die wir in einer idealen Welt nicht hätten tun müssen. Ich würde Galli zustimmen. Denn so habe ich das auch häufig dargestellt.

Doch Galli schneidet sich selbst von einer solchen Handlung ab. Er geht sogar so weit, zu sagen, dass er glaubt, dass die Amtsenthebung Trumps “nicht nur eine Frage bürgerlicher Treue sondern die Treue zum Schöpfer der Zehn Gebote ist.” Das ist ein verblüffender Anspruch des Editors von Christianity Today, denn es bedeutet das jeder Trump-Wähler einer abscheulichen Sünde angeklagt wird, egal wie konfliktbehaftet oder zögerlich er abstimmte.

Wie schon oben ausgeführt, spielt Galli keinen heuchlerischen Pharisäer, der im Twitter-Tempel steht und Gott dafür dankt, dass er nicht so ist, wie die anderen Evangelikalen – während er rassistisch, frauenfeindlich und vielleicht sogar ein Trump-Unterstützer ist. Doch sein Editorial ist typisch für die dahinter liegende Pathologie. Die evangelikale Elite verliert den Kontakt und ist nicht mehr auf dem Laufenden im Bezug auf die populäre evangelikale Basis, was auch für die Gesellschaft im Allgemeinen gilt. Den durchschnittlichen Evangelikalen nun als zurückgeblieben oder als Heuchler zu bezeichnen, wird bloß den Spalt vergrößern.

Bildergebnis für carl r trueman

Carl R. Trueman unterrichtete lange Zeit Kirchengeschichte am Westminster Theological Seminary und unterrichtet seit 2018 am Grove City College. Der hier veröffentlichte Artikel erschien zuerst  am 20.12.2019  auf firstthings unter dem Titel: Evangelical Elites are out of touch

Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Autors und firstthings.

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