Queere Zeiten

Ein Artikel von Carl R. Trueman:

Darel Pauls Artikel “Under the Rainbow Banner” (dt.: Unter der Regenbogenfahne), der in der Juni/Juli Ausgabe von First Things erschien, könnte einer der wichtigsten und scharfsinnigsten Artikel sein, die je in dem Magazin erschienen sind. Wie Rod Dreher bemerkt, ist er ein erschütterndes Stück Kulturanalyse. Er dringt bis zum Kern unseres Lebensgefühls durch, in dem Individualismus, Freiheit und Anerkennung moralische Imperative sind. Dennoch deutet Paul darauf hin, dass diese Dinge nicht notwendigerweise miteinander kompatibel sind, selbst in unserer Welt kaleidoskopischer Identitäten und konfiszierter Gesellschaften. Sie bringen uns eher zum Chaos in seinem kleinsten gemeinsamen Nenner.

Der Essay erinnert mich an die vielen Jahre, die ich damit verbrachte, die unterschiedlichen Kulturansätze zu verstehen, die mit dem Überbegriff der Kritischen Theorie zusammengehalten werden. Die Queere Theorie ist eine der bedeutsamsten dieser Ansätze. Beim Waten durch die anspruchsvoll verfasste und ständig undurchsichtige Prosa blieb meine Frage: Was genau ist das Ziel des Ganzen? Was streben diese Menschen in Bezug auf eine positive philosophische und politische Konstruktion an? Schließlich schlussfolgerte ich, dass die Antwort darauf relativ einfach ist: Der Zweck der kritischen Theorie ist es überhaupt nichts zu etablieren. Vielmehr geht es darum, jeden Anspruch auf transzendente Wahrheit oder transzendente Werte als potenziell unterdrückend zu destabilisieren. Ihr Ziel ist die Zerstörung aller Meta-Erzählungen, und so ist die bombardierend abstoßende Prosa selbst Teil des “Arguments”. Die Leser selbst über die einfachsten Dinge hoffnungslos verwirrt zurück zu lassen, ist ein wichtiger Teil des Spiels, wobei die blickdichte Einfachheit eine Möglichkeit ist, wie die Unterdrücker ihre Unterdrückung als natürlich erscheinen lassen.

Konservative antworten auf Behauptungen über den Tod von Meta-Erzählungen oft mit der abgedroschenen Bemerkung, dass auch dies eine Meta-Erzählung sei. Das ist jedoch nur im aller banalsten Sinne wahr und die Aussage auf diese Weise wird polemisch nutzlos. Alle früheren Meta-Erzählungen haben, ob im Guten oder im Schlechten, versucht, der Welt durch eine Reihe von Kategorien Stabilität zu geben, nach der Kulturen funktionieren können. Sie mögen unterschiedliche, sogar sich gegenseitig ausschließende Erklärungen der Welt abgegeben haben, doch es war immer die Absicht Stabilität zu liefern. Die Meta-Erzählung vom Tod der Meta-Erzählungen verfolgt jedoch das Gegenteil: Sie dient nur dazu, alles zu destabilisieren. Sie ist die wesentliche Ideologie der Anti-Kultur, die sich gegen jede Form transzendenter Autorität wendet. Und das erzeugt alle möglichen Probleme, selbst an den unwahrscheinlichsten Orten.

Nehmen Sie z.B. das folgende Zitat aus der feministischen Bibel Our Bodies, Ourselves, in der eine Lesbe über eine sie treffende, moderne Herausforderung spricht.

Als meine Partnerin mit der Geschlechtsumwandlung begann, war meine lesbische Identität seit weit über einem Jahrzehnt ein zentraler Bestandteil meines Lebens und meines Selbstverständnisses, und ich wusste nicht, was ihre Umwandlung aus mir machte. Einige Leute sagten mir, ich sei “offensichtlich” immer noch lesbisch, aber für andere war es genauso offensichtlich, dass ich jetzt heterosexuell oder bisexuell sei. Für mich war es überhaupt nicht offensichtlich, und ich hatte lange Zeit damit zu kämpfen. Jetzt bin ich schon so lange, wie ich lesbisch war, die Partnerin eines Trans-Mannes, und ich habe es mir angewöhnt, einfach keinen Namen für das zu haben, wofür ich mich halte. Ich betrachte mich als Teil der Familie der Queers und Transsexuellen.

Dies ist die Art von Dilemma, die nur in unserer Welt der fließenden Identitäten und ohne feste Kategorien entstehen kann. Wenn diese Frau ihre Identität als Lesbe bejaht, bedeutet das für sie, dass sie die Identität ihres Partners als Transgender-Mann leugnet. Wenn sie die Identität ihres Partners als transsexueller Mann bejaht, muss sie ihre eigene Identität als Lesbe leugnen. Wie sehen Freiheit und Authentizität und Anerkennung in dieser Situation aus? Letztlich müssen sie wie Queerdium aussehen – die Aufgabe jeglicher statischer, äußerer Kategorien, wie auch immer. Es sieht nach freiem Fall der Identität aus. Es sieht erschreckend schwindelerregend aus. Das liegt daran, dass keine stabile Kategorie – nicht einmal das L, das G oder das B der Regenbogenliga – überleben kann.

Hier liegt eine menschliche Tragödie. Diese Art gefühlsbetonter persönlicher Stellungnahmen wird (wie in Our Bodies, Ourselves) oft benutzt, um der Plausibilität der sexuellen Revolution eine sentimentale Kraft zu verleihen. Doch beachten Sie, was sie wirklich sagt: Das Queerdium hat diese Frau hoffnungslos verwirrt darüber gelassen, wer sie wirklich ist. Ideen, die in Seminaren verbreitet werden, bringen echte menschliche Kosten mit sich, wenn sie mit realen Menschenleben in die Praxis umgesetzt werden. In ihrer Geschichte sieht die Zugehörigkeit zur Familie der Queers eher wie ein kaum ausreichender Trostpreis aus, ein Strohhalm, den man verzweifelt greifen muss, als eine freudige Offenbarung wahrer Freiheit und Zugehörigkeit. Die totale Freiheit, die die Queerness verspricht, ist in Wirklichkeit Knechtschaft – sie hindert sie daran, die zu sein, für die sie sich wirklich hält. Sie kann nicht dorthin gehören, wo sie will, weil die anarchische Freiheit der Queerdomie es ihr nur erlauben wird, der Gemeinschaft anzugehören, die sie angesichts aller historischen und chromosomalen Zeugnisse für legitim erklärt hat. Die totale Freiheit hat den totalen Despotismus entfesselt.

Wie Paul bemerkt, mag Joe Biden wohl meinen, dass die Trans-Gleichheit die Bürgerrechtsfrage unserer Zeit ist. Das Problem ist, dass er damit der Meta-Erzählung von der Ablehnung aller Meta-Erzählungen, auch des eigenen Körpers, moralische Überlegenheit einräumt. Indem wir das tun – so beispielgebend es ein solcher marxistischer Kritiker wie Terry Eagleton seit vielen Jahrzehnten immer wieder festgestellt hat -, sind wir machtlos gegenüber den Behauptungen welcher Lobbygruppe auch immer, die gerade an der Macht ist. Und das stellt natürlich eine große Herausforderung für die Kirche dar: Wenn traditionelle Feministinnen und Lesben die hohen Anerkennungsstandards, die von den Leitgebenden der Queer-Theorie aufgestellt wurden, nicht erfüllen können, welche Hoffnung haben dann diejenigen, die die christliche Meta-Erzählung von Schöpfung, Fall und Erlösung auf dem öffentlichen Raum vertreten?

Darin liegt unsere Herausforderung. Und der erste Schritt, ihr zu begegnen, besteht darin, dafür zu sorgen, dass sich die Christen genau darüber im Klaren sind, womit wir es zu tun haben. Die Debatte über LGBTQ-Themen ist keine Debatte über Sexualverhalten. Ich vermute, dass es an diesem Punkt nicht wirklich eine Debatte mit dem L, dem G oder dem B ist. Es sind das T und das Q, die den Gang vorgeben und wir müssen verstehen, dass es in der Debatte um die radikale Abschaffung der Metaphysik und der Meta-Erzählungen geht und um jede Vorstellung kultureller Stabilität, die darauf beruhen könnte. Solange wir das nicht klar gestellt und unsere Strategie des Engagements nicht entsprechend angepasst haben, können wir nicht die Argumente entwickeln, die nötig sind, um unsere Mitchristen von der Wahrheit zu überzeugen, geschweige denn irgendjemand anderen. Vor diesem Hintergrund ist der Artikel von Darel Paul als ein Signalbeitrag, der uns in die richtige Richtung weist, sehr willkommen.


Bildergebnis für carl r truemanCarl R. Trueman  ist Professor für biblische und religöse Studien am Grove City College und  Mitarbeiter Am Institut für Glauben und Freiheit. Der hier veröffentlichte Artikel erschien zuerst  am 21.05.2020  auf firstthings unter dem TitelQueer Times.

Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Autors und firstthings.

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