Biblische Texte, Gesellschaftskritik

Rehabilitation einer armen Witwe

Das Thema Spenden: Jede Predigt dazu erwähnt diese arme Dame. Einmal las ich in einem christlichen Flyer zum Wunder des Missionsgroschen, ein Loblied auf diese Tat der armen Witwe, die nur einen Pfennig der nichts wert war, spendete und Gott das wohlwohlend beurteilte. Die Geste zähle eben.

Genau das ist es, was mich immer aufregt. Es wird Zeit für eine Rehabilitation dieser ehrwürdigen Schwester, die vom Herrn persönlich Lob erhalten hat.

Ich möchte an vier Stellen ansetzen:

Sind zwei Lepta wirklich nichts?

In dem oben genannten Flyer wurde die von der Witwe gespendete Menge mit einem Cent gleichgesetzt. Das kann einfach nicht korrekt sein. Jesus betont: “sie hat eingelegt, was sie zum Leben hatte.” Wenn ich in meiner Hosentasche mal zufällig 2ct entdecke, ist es selbst im hungrigen Zustand keine Herausforderung diese abzugeben, denn dafür kann man sich nicht einmal einen Würfel Hefe (bekanntlich für 9ct zu haben) erwerben. Leider beschränken sich auch die meisten Lexikas, die ich referenziert habe, darauf, zu unterstreichen, dass ein Lepton eigentlich nur eine theoretisch relevante Münze ist. Besser macht das Logos, das in meiner Bibliothek eine Übersichtsgraphik führt. Da ich mir hier nicht sicher bin, inwieweit ich die Abbildung veröffentlichen darf, habe ich nur den relevanten Teil ausgeschnitten:

Der entscheidende Punkt: Für ihre Spende hätte sich die Witwe ein (zugegebenermaßen spärliches) Abendessen und vielleicht sogar ein Bad im öffentlichen Bad-Haus leisten können. Oder anders ausgedrückt: Weil Sie das Wenige, was sie besaß, spendete, musste sie hungrig und dreckig schlafen gehen. Das ist das tragische Leben einer Witwe im Nahen Osten der Antike.

Überlegtes Spenden?

Trials of Christ von John GilmoreAber immerhin gab sie ja ihr Geld dem Herrn, oder? Doch gerade dieser korrupten “Priesterbande” um Kaiphas und seinem Schwiegervater Hannas herum, hätte ich am liebsten nichts gegeben. Im Buch Trials of Christ deckt John Gilmore einige der Machenschaften der Beiden auf. Gilmore berichtet, dass alleine Hannas, mehr als 3 Mrd. Silberstücke entwendet hat.  Der Hohepriester lebte deswegen in einem Palast (Matth. 26,3; Mrk. 14,54; Joh. 18,15), weil er sich fleißig am “Gotteskasten” bediente. Furchtbare Ganoven! In Luk. 20,47 spricht Jesus davon, dass die Schriftgelehrten der Witwen Häuser fressen. Kaiphas Palast war kaum zu übersehen, da er sich gegenüber dem Tempelberg auf dem Zionsberg befand. Auch die Witwe dürfte wissen, wo hier die Finanzierungsquellen lagen. Dennoch schmeißt sie das Geld in den Kasten. Danach geht sie heim und legt sich ungewaschen und hungrig schlafen. Oben auf dem Zionsberg aber geht ein weiterer erfolgreicher Tag im Palast des Hohepriesters zur Neige.

Wie kann man hungrig und doch im Frieden einschlafen?

Der dritte Reibungspunkt: Zu häufig wird die Geschichte verwendet, um Wohlstands-Teens dazu zu bewegen ihr “Eis-Geld” o.Ä. zu spenden. So weit, so gut (und richtig), dennoch bleibt die Frage unbeantwortet, warum die Witwe bereit war, auf ein kärgliches Mahl zu verzichten, obwohl der Tempel doch eigentlich nicht gerade nach Geldmangel aussah! Selbst Herodes finanzierte diesen mit. Warum wirft die Witwe die “zwei Scherflein in den Gotteskasten”. Eigentlich kann es nur eine überraschende und herausfordernde Erklärung geben, wenn wir die Witwe nicht für völlig bescheuert abtun wollen: Der armen Witwe dürfte bekannt sein, was das Gesetz und die Propheten über Gottes Fürsorge für die Witwen lehrte: Gott schaft Waisen und Witwen Recht, gibt ihnen Speise und Kleider (5. Mo. 10,18). Gott ist ein Vater und Helfer der Witwen und Waisen( Ps. 68,5) und verspricht diese zu behüten (Ps. 146,9). Als die Witwe ihre allerletzte Reserve abgibt, gibt sie alle Hoffnung, sich selbst zu helfen, auf. Ihre ungewöhnliche Spende beruht darauf, dass sie wirklich weiß, wer Ihre Rettung ist und woher Ihre Hilfe kommt. Das ist wahrlich faszinierend und herausfordernd zugleich. Eine ganz andere Perspektive, die üblicherweise ein Teenie hat, wenn er sein Eis-Geld für einen Missionar im Labrador abgibt. Wie gesagt, das sage ich nicht, um zu sagen, dass Teenies lieber Eis essen sollen, als zu spenden. Ich wünsche mir einfach einen deutlicheren Blick darauf, wie der Glaube an einen mächtigen Gott, diese Witwe verändert und ihren Wandel prägt. Wahrlich, sie hat mehr in den Kasten eingelegt, weil sie mehr glaubte. Sie gab für das Evangelium, weil sie selbst davon lebte. Ihr Gott war in der Tat der Gott der Witwen und Waisen. Es war IHR Gott! Dann ging sie heim und legte sich hungrig und dreckig schlafen. Oben aber im Palast des Hohepriesters lebte man weiterhin in Saus und Braus. Das Leben dieser Frau dürfte für jeden Europäer eine Herausforderung sein, ob nun fromm sozialisiert oder nicht.

War die Witwe wirklich ganz allein?

Auch diesmal habe ich nach einem geeigneten Bild für meinen Artikel gesucht. Was mich fasziniert hat, ist dass die meisten Maler eine junge Witwe mit Kind (oder Kindern) darstellen, so wie hier James Tissot (vgl. aber auch hier und hier):

File:Brooklyn Museum - The Widow's Mite (Le denier de la veuve) - James Tissot.jpg

Ich habe selten so verzweifelt auf ein Gemälde gestarrt. An diese alles andere als unwahrscheinliche Möglichkeit habe ich bisher nicht gedacht. Wie furchtbar unerträglich. Ich spüre in mir Verzweiflung und Unmut hochsteigen. Jesus, warum gehst du nicht nach und belohnst diese Witwe mit Öl und Mehl, die nicht mehr ausgehen? Wahrlich, der Gerechte kommt um, und niemand ist da, der es zu Herzen nimmt (Jes. 57,1). Nach den Gemälden ging die Witwe und ihre Familie hungrig und ungewaschen zu Bett. Und oben im Palast des Hohepriesters brennen immer noch die  Lichter irdischer Freude.

Unten aber im Tal von Betanien bereitet sich Jesus darauf, einen noch elendigeren Weg zu gehen, als sein Kind, das er erlöst hat, das ihm völlig vertraut ist und das er von ganzem Herzen liebt.

Extra Input

Das Witwentum nimmt eine besondere Stellung in der Bibel ein. Im AT bestätigt Gott immer wieder, dass er der Vater der Waisen und der Helfer der Witwen ist. Gleichzeitig war der Witwenstand einer von großer Schmach (Jes. 4,1). Das Volk Israel wird ähnlich wie die Gemeinde aufgefordert, sich um die Witwen zu kümmern (Mal. 3,5; Jak. 1,27; Apg. 9,39-41; 6,1-6;1 Tim. 5,3-16). In besonderer Weise beschreibt Lukas Jesus als einen, der um die Witwen besorgt ist. Nicht nur, als er die Elite Israels kritisiert, sondern auch, als er den einzigen Sohn einer Witwe auferweckt (Luk. 7,12-15, vgl. aber auch Luk. 18,3). Im ähnlichen Kontext echter Fürsorge (Erbarmen!) dürfte auch Jak. 1,27 zu lesen sein (und nicht der bloße Besuch zu einer Andacht). Es ist äußerst fruchtbar, sich alle Stellen zu diesem Thema durchzulesen. Als Handreichung habe ich dafür eine Versliste erstellt (download als .pdf). Die Verknüpfung zwischen der Gerechtigkeit Gottes und seinem Erbarmen mit Witwen, Waisen und Fremdlingen bespricht Tim. Keller in seiner Predigt: The Justice of God.

 

 

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