Calvins missverstandene Lehre der Erwählung
Ein Artikel von David Gibson, Übersetzung: Lars Dell, Manuel Dell
Alles, was wir über Johannes Calvin wissen, ist, dass er ein Schotte des achtzehnten Jahrhunderts war, ein prüder und obskurer Mensch mit einer Schnalle auf seinem Hut, möglicherweise ein Hexenverbrenner, sicherlich aber der Geist des Kapitalismus in Person.
Marilynne Robinson, Der Tod Adams (The Death of Adam)[1]
Einleitung
Johannes Calvins Lehre von Erwählung und Prädestination wird häufig verleumdet, oft missverstanden aber nur selten erklärt. Das Letztere mag vielleicht schwer zu glauben sein. Ist es denn nicht gerade diese Lehre, welche ihn so berühmt-berüchtigt macht?
Vor einiger Zeit habe ich drei Jahre lang die biblische Exegese der Erwählung von Calvin, als auch die des deutsch-schweizerischen Theologen Karl Barth (1886–1968) erforscht. Die Erwählungslehre Calvins hatte großen Einfluss auf Barth und ich nahm an, dass das in der wissenschaftlichen Literatur konkrete Form annahm. Umso erstaunter war ich aber, als ich feststellte, dass es zu dieser Zeit nur eine veröffentlichte englische Monographie gab, die ausschließlich Calvins Lehre über Erwählung und Prädestination gewidmet war.[2] Für eine so klar mit Calvin verbundene Lehre, deren modernen Formen der christlichen Tradition unglücklicherweise als „Calvinismus“ bekannt sind, ist es erstaunlich, dass seine Ansichten auf diesem Gebiet so wenig Aufmerksamkeit erhalten haben. Es ist nicht so, dass nichts geschrieben wurde. Zeitschriftenartikel, Abschlussarbeiten und Buchkapitel zu diesem Thema gibt es in englischer Sprache. Aber es ist doch überraschend, wenn man bedenkt, wie viele andere Themen aus Calvins Denken in den letzten Jahren mit unabhängigen Büchern gewürdigt wurden, während seine berüchtigten Ansichten von Erwählung und Prädestination verkümmern.
Es ist nicht leicht, mit Sicherheit zu sagen, warum Calvins Theologie der Erwählung und Prädestination so übersehen wurde. Es wäre schön, wenn sich herausstellt, dass einer der Gründe – wie Richard Muller und andere uns daran erinnert haben – darin besteht, dass es so etwas wie „Calvins Doktrin der Erwählung“ in Wirklichkeit nicht gibt – also den einzigartiger Exoten Calvin. Eine der großen Lasten von Calvins theologischem Schreiben bestand nämlich darin, zu zeigen, dass er weder mit der Bibel noch innerhalb der Tradition erfinderisch war.
Ich glaube aber nicht, dass diese Perspektive viel Einfluss auf die landläufige oder auch akademischere Meinung über Calvin hatte. Es ist viel wahrscheinlicher, dass so wenig über Calvin und die Erwählung geschrieben wurde, da das meiste einfach angenommen wurde. Das Epigraph meines Essays ist herrlich augenzwinkernd, aber leider liest nicht jeder so versessen Calvin wie Marilynne Robinson. Wenn es um seine Erwählungslehre geht, reichen die Annahmen der populären Wahrnehmung, dass Calvins Ansichten ohne Weiteres auf die doppelte Prädestination reduziert werden könnten, über leichte Verlegenheit über einige der kühleren Teile seiner Darstellung (selbst unter seinen Gönnern), bis hin zur akademischen Zwiespältigkeit oder regelrechten Verachtung. Diese letzteren Positionen, zweifellos durch viele Faktoren verursacht, sind in manchen Kreisen sicherlich auf Karl Barths magisteriale Überarbeitung der Doktrin der Erwählung in seiner kirchlichen Dogmatik zurückzuführen. Gerade weil Barth so ernsthaft mit Calvins Ansatz gerungen hat, um dann darüber hinauszuschießen, neigen diejenigen, die in Barths Fußstapfen treten, dazu, Calvin historisch zwar interessant zu finden, ihm aber theologisch den Laufpass zu verpassen.
Die Absicht des Autors
In diesem kurzen Essay möchte ich mich aber von diesen Annahmen abwenden, indem ich einen Überblick darüber gebe, wie und was Calvin über die Doktrin der Erwählung dachte. Ich behaupte, dass Calvins „was“ durch sein „wie“ wesentlich erleuchtet wird. Zudem hoffe ich, Calvin als Vorbild für ehrfürchtiges, theologisches Denken vorzustellen, der uns in weitaus mehr Gebieten als nur in der Frage der Erwählung unterweisen kann.[3]
Ich werde in zwei Schritten vorgehen: Zuerst sehen wir, was die „Institutio“ uns darüber sagt, wie Calvin glaubte, dass die Bibel die Erwählung lehrt. Im zweiten Schritt betrachten wir fünf hermeneutische Linsen, welche die Form der Lehre von der Erwählung prägten, wie Calvin sie verstand.
Die Institutio als Fahrplan zuR Bibel
Das vielleicht auffälligste Merkmal von Calvins Erwählungslehre in seinen „Institutionen der christlichen Religion“ ist, wie lange er braucht, um dieses Thema zu behandeln. Die Erwählung ist der Höhepunkt des dritten Buches – etwa zwanzig Kapitel tief vergraben in seiner Diskussion darüber, wie wir die Gnade Christi empfangen. Angesichts der Tatsache, dass die Institutio zu Calvins Lebzeiten mehrere zunehmend erweiterte Editionen durchlief, und angesichts der Tatsache, dass Calvin für die endgültige Ausgabe von 1559 seine Abhandlungen über Vorsehung und Prädestination auftrennte (Die Vorsehung in „Die Erkenntnis Gottes des Schöpfers“ in Buch 1 verschiebend, aber die Prädestination mehr oder weniger dort belassend, wo sie seit 1539 immer gewesen war), hatte Calvin wohl gute Gründe, die Erwählungslehre dort zu platzieren, wo er es tat. Was könnten diese Gründe sein?
Nun ist es wichtig, den Zweck der „Institutio“ zu verstehen. Hier also das Vorwort:
„Weiterhin habe ich bei dieser Arbeit die Absicht verfolgt, die Kandidaten der heiligen Theologie so zum Lesen des göttlichen Wortes vorzubereiten und anzuleiten, dass sie einen leichten Zugang zu ihm haben und sich in ihm mit ungehindertem Schritt vorwärtsbewegen können. Denn ich meine, die Summe der Religion in allen Abschnitten so zusammengefasst und in einer solchen Anordnung dargestellt zu haben, dass es jedem, der sich richtig daranhält, nicht schwer fallen dürfte zu entscheiden, was er insbesondere in der Schrift suchen und auf welches Ziel er alles in ihr Enthaltene ausrichten soll. Wenn ich, nachdem so gleichsam der Weg gebahnt ist, künftig Auslegungen der Schrift herausgeben werde, dann werde ich diese immer auf eine knappe Darlegung beschränken, da es entbehrlich ist, über die Lehrinhalte lange Auseinandersetzungen zu führen und sich über die Hauptbegriffe auszubreiten. Durch dieses Vorgehen wird der fromme Leser von großem Verdruss und Erschöpfung entlastet – vorausgesetzt, er nähert sich dem Inhalt, indem er über die Kenntnis des vorliegenden Werkes als einer unverzichtbaren Voraussetzung verfügt.“[4]
Diese Worte machen mehr als nur deutlich, dass Calvin nie beabsichtigte, seine Institutio als die Summe seines theologischen Denkens zu betrachten. Sie machen auch seine Absicht deutlich, dass dieser Text und alle folgenden Kommentare zusammengelesen werden sollten. Die Calvin-Forschung hat die symbiotische Komplementarität gezeigt, die zwischen der sich entwickelnden Form der Institutio auf der einen Seite und Calvins Kommentaren, Predigten und anderen exegetischen Werken auf der anderen Seite besteht. So wurden die aufeinanderfolgenden Ausgaben der ersteren (Institutio) durch Calvins erstaunlichen Output des letzteren (Predigten, etc.) verfeinert, ergänzt und geformt.[5]
Aber beachten Sie auch die beabsichtigte Wirkung dieses Vorworts auf einen Leser der Bibel. Calvin sagt nicht, dass sein übergeordnetes Ziel darin besteht, Kandidaten in Theologie zu unterweisen, sondern theologische Kandidaten „für das Lesen des göttlichen Wortes“ zu unterweisen. Beachten sie die logische Reihenfolge: Wenn jemand seine Anordnung der christlichen Lehre in diesem Text richtig begreift, dann wird er sowohl wissen, worauf er im biblischen Text achten muss, als auch in der Lage sein, die Teile ganzheitlich und zweckgebunden zu lesen. Es gibt einen klaren, fortlaufenden Übergang von der Lehrdiskussion zum biblischen Text. Calvin möchte denen, die ihn lesen, helfen, die Bibel zu lesen.
Betrachten sie die hermeneutischen Metaphern, die er verwendet. Wie ein Schlüssel zielt die Institutio darauf ab, einen „einfachen Zugang“ zur Schrift zu gewähren, und wie eine Fackel oder eine Leitplanke wird es einem ermöglichen, „in ihr voranzukommen, ohne zu stolpern“. Wie eine Karte wurden ihre Teile so angeordnet, dass eine „Straße“ vor ihnen „gepflastert“ wurde. Wie eine Waffe soll sich der gottesfürchtige Leser der Schrift „bewaffnet“ und mit dem „Werkzeug“ der Institutio nähern. Calvins Ziel ist klar. Aus der Bibel geschürft, von der Bibel geformt, sind die Institutio ein Fahrplan für die Bibel. Es ist das Produkt der Exegese – als Leuchtfeuer für die weitere Exegese gedacht. Es ist nicht nur so, dass Calvin in der Institutio hermeneutische Prinzipien lehrt; die Intuitionen selbst sind eine Hermeneutik.
Die Natur des rettenden Glaubens
Calvin beabsichtigte also, dass das Lesen in der Institutio über die Erwählung, dabei helfen soll, über die Erwählung in der Bibel zu lesen. Erinnern wir uns noch einmal an das Vorwort. Calvin möchte die „Summe der Religion in all ihren Teilen“ in einer solchen Reihenfolge anordnen, damit sie uns hilft, die Bibel gut zu lesen. In dieses Licht gestellt, hat Buch 3 eine ungewöhnliche Eigenart. Es beginnt mit der Einheit mit Christus und wandert von der Heiligung hin zur Rechtfertigung zur Prädestination, wobei diese drei Themen in umgekehrter Reihenfolge ihrer Beziehung zueinander behandelt werden. Sicherlich ist das nicht logisch. Wie könnte uns eine solche Anordnung zu guten Interpreten der Schrift machen? Ich meine, dass Calvin die Lehre von der Erwählung in einem größeren, speziellen Argument über die Natur des rettenden Glaubens zusammengefasst hat, von dem er glaubt, dass es das meiste Licht auf die Bedeutung der Erwählung wirft. Das soll uns helfen, die Schrift auf die bestmögliche Weise zu interpretieren.
Buch 3 trägt den Titel „Der Weg, auf dem wir die Gnade Christi empfangen“. Hier plädiert Calvin für die Einheit mit Christus durch den Geist als Herzschlag seiner Soteriologie[6].
„Da muss man zunächst festhalten: Solange Christus außer uns bleibt und wir von ihm getrennt sind, ist alles, was er zum Heil der Menschheit gelitten und getan hat, für uns ohne Nutzen und gar ohne jeden Belang!“[7]
Allein der Glaube an Christus allein ist der Weg, den Gewinn in Christi zu erfahren. Angesichts der Tatsache, dass „nicht alle unterschiedslos die Gemeinschaft mit Christus annehmen, die uns im Evangelium angeboten wird“, ist Calvins Glaubenslehre an „die verborgene Wirksamkeit des Heiligen Geistes“ gebunden.[8] Die Einleitung seines Hauptthemas enthält hier Hinweise auf die Frage nach dem Ursprung des Glaubens, auf die Calvin in seiner Lehre von der Erwählung ausdrücklich eingehen wird. Bevor er jedoch die Erwählung in III.21 behandelt, legt Calvin zuerst den Glauben dar (indem er seine Definition gegen die römisch-katholische Darstellung verteidigt), dann die Heiligung, dann die Rechtfertigung, dann die christliche Freiheit und das Gebet, bevor er sich schließlich der Erwählung zuwendet. Was sagt uns das?
Eine der aufschlussreichsten Behandlungen von Calvins „ordo“ wurde von Richard B. Gaffin zur Verfügung gestellt. Gaffin weist zu Recht auf die Bedeutung des polemischen Materials in Buch 3 hin und weist darauf hin, dass „die ständig nachhallende Anschuldigung aus Rom zu dieser Zeit . . . ist, dass die protestantische Lehre von der Rechtfertigung, von einer gnädig zugeschriebenen Gerechtigkeit, die allein vom Glauben empfangen wird, geistiger Trägheit und Gleichgültigkeit gegenüber dem heiligen Leben dient.“[9] Calvins Antwort auf diese Vorwürfe besteht nicht in erster Linie darin, auf der protestantischen Definition der Rechtfertigung mit all ihren Details zu bestehen, sondern vielmehr darin, auf der Grundlage einer Definition des Glaubens vorzugehen, die den Kern des Streites mit Rom anspricht. In Gaffins Worten: „Calvin zerstört Roms Anklage, indem er zeigt, dass der Glaube in seinem protestantischen Verständnis eine Anweisung zur Heiligkeit ohne speziellen Bezug zur Rechtfertigung beinhaltet, ein Streben nach Gottesfurcht, die nicht nur als Folge der Rechtfertigung zu verstehen ist.“[10]
Calvin kann die Heiligung vor der Rechtfertigung und beide vor der Prädestination behandeln, weil er zeigen will, dass die Natur des Glaubens selbst ein Licht darauf wirft, was jedes dieser Lehrthemen enthält. Sie sind jeweils Beispiele dafür, wie „unser Heil allein aus Gottes bloßer Großzügigkeit kommt“ und in keiner Weise aus unseren Werken. Calvin ist der Ansicht, dass die Natur des Glaubens untrennbar mit dem Bewusstsein unserer Notlage und unseres Bedürfnisses nach einem barmherzigen Gott verbunden ist. In diesem Zusammenhang bietet Calvin seine Definition von Glauben an:
„Jetzt sind wir soweit, dass wir eine richtige Beschreibung vom Wesen des Glaubens geben können; wir müssen sagen: Er ist die feste und gewisse Erkenntnis des göttlichen Wohlwollens gegen uns, die sich auf die Wahrheit der in Christus uns dargebotenen Gnadenverheißung stütz und durch den Heiligen Geist unserem Verstand geoffenbart und in unserem Herzen versiegelt wird.“[11]
Indem er seine Definition in einen trinitarischen Rahmen stellt, führt Calvin eine völlig monergistische[12] Darstellung der Handlungen des Glaubens an: Glaube ist die Erkenntnis der Barmherzigkeit Güte Gottes, gegründet auf eine Verheißung, die frei in Christus gegeben und allein durch das Wirken des Geistes offenbart und versiegelt ist. Die kombinierte Wirkung ist eine Anlegestelle der Axt an die Wurzel jeder Glaubensauffassung, die einen menschlichen Beitrag in ihren Beschlüssen enthält. Schritt für Schritt, mit einem ausschließlichen Fokus auf Christus und seinen Wohltaten, zerstört Calvin alle menschlichen Grundlagen für Selbstsicherheit in Bezug auf die Erlösung.
„Der Glaube hat also keinen festen Bestand, wenn er nicht in Gottes Barmherzigkeit gegründet ist.
(…) Ich will nur zweierlei aufzeigen: Erstens kommt der Glaube niemals zu festem Bestand, bis er zu jener aus Gnaden geschehenden Verheißung durchgedrungen ist, und zweitens kann er uns nur dadurch mit Gott versöhnen, dass er uns mit Christus verbindet.“[13]
Nicht durch Werke
Wenn Calvins vier Kapitel über die ewige Erwählung in seiner Institutio (3,21-24) ohne Rücksicht auf ihre Platzierungvin diesem sich entfaltenden Argument gelesen werden, dann ist das Erste, was dem Leser auffällt, Calvins unverschämte Kühnheit angesichts einer scheinbar steilen These:
„Wir werden nie und nimmer so klar, wie es sein sollte, zu der Überzeugung gelangen, dass unser Heil aus dem Brunnquell der unverdienten Barmherzigkeit Gottes herfliesst, ehe uns nicht Gottes ewige Erwählung kundgeworden ist; denn diese verherrlicht Gottes Gnade durch die Ungleichheit, dass er ja nicht unterschiedslos alle Menschen zur Hoffnung auf die Seligkeit als Kinder annimmt, sondern den einen schenkt, was er den anderen verweigert.“[14]
Kurz darauf, gibt er seine Definition von Gottes ewigem Ratschluss in der Prädestination hinzu:
„Denn die Menschen werden nicht alle mit der gleichen Bestimmung erschaffen, sondern den einen wird das ewige Leben, den anderen die ewige Verdammnis vorher zugeordnet. Wie also nun der einzelne zu dem einen oder anderen Zweck geschaffen ist, so – sagen wir – ist er zum Leben oder zum Tode „Vorherbestimmt“.“[15]
Liest man diese Aussage jedoch als Teil seiner gesamten Argumentation, wird deutlich, dass Calvins berüchtigte Lehre der Erwählung ihm als ein weiteres Puzzlestück für die Soteriologie dient. Diese Heilslehre ist mit allen Formen des Synergismus[16] völlig unvereinbar, weil sie in der Fortsetzung seiner Glaubenslehre als „völlig ohne menschlichen Zutuns“ steht.
Im allerersten Abschnitt stellt Calvin fest, dass in seiner souveränen Wahl „Gott, der Werke völlig ablehnt, diejenigen erwählt, die er in sich selbst bestimmt hat“.[17] Weit davon entfernt, eine Nebensache zu sein, ist der Ausdruck „Werke völlig ablehnend“ in Wirklichkeit das treibende Ziel der Argumentation Calvins: Nur durch diese Nichtanerkennung bewahrt Gott seine eigene Herrlichkeit, was auch „echte Demut“ in uns fördert. Zu diesen beiden Zwecken seiner monergistischen Darstellung fügt Calvin einen dritten hinzu: Allein auf dieser Grundlage können wir wissen, dass Gottes Gnade frei ist.[18]
Angefangen mit seiner Zusammenfassung der Erwählung in der Bibel betont Calvin erneut, dass bei der Erwählung Israels diese Aspekte der göttlichen Wahl im Vordergrund stehen.
„Denn sie (die Nachkommen Abrahams) schreiben hier alle Gaben, mit denen sie Gott geziert hatte (Calvin bezieht sich auf Ps. 47,5 und 5.Mo 23,5), seiner unverdienten Liebe zu – nicht nur, weil sie wussten, dass sie sie durch keinerlei Verdienste erworben hatten, sondern auch, weil sie erkannt hatten: Nicht einmal der heilige Erzvater war mit solcher Tugend ausgerüstet, dass er damit sich und seinen Nachkommen ein solches Ehrenvorrecht erworben hätte! .“
Calvin fordert alle Abweichenden dazu auf:
„Wie dem aber nun sei – es sollen doch einmal die vortreten, die Gottes Erwählung an die Würdigkeit der Menschen oder an die Verdienste der Werke binden wollen! Sie sehen doch, dass hier ein einziges Volk allen anderen vorgezogen wird(…) Wollen sie nun mit ihm hadern, weil er einen solchen Beweis seiner Barmherzigkeit hat liefern wollen?“[19]
Am deutlichsten ist vielleicht, dass das gesamte nächste Kapitel, 3.22, ganz der Frage gewidmet ist, ob die Erwählung von den vorausgesehenen Verdiensten der Gewählten abhängt oder nicht. Hier behandelt Calvin biblische Passagen, einschließlich der Lehre Jesu selbst, sowie das Zeugnis der Kirchenväter. Die Summe des Arguments weist immer nur in eine Richtung:
„Wahrlich, Gottes Gnade würde es nicht verdienen, angesichts unserer Erwählung allein gepriesen zu werden, wenn diese nicht eben rein aus Gnaden geschähe! Sie geschieht aber nun nicht aus Gnaden, wenn Gott selbst bei der Erwählung der Seinen darauf achtet, wie nun in Zukunft die Werke jedes einzelnen aussehen werden.“[20]
In seinem letzten Kapitel über die Erwählung (3.24) wendet Calvin das Prinzip der Wahl auf eine Reihe verschiedener Themen an. So gebündelt, skizziert er seine Gedanken über die Verbindung von Erwählung und Gewissheit. Das Ergebnis ist ein Konzept der Sicherheit des Heils, welche gleichzeitig das Vertrauen in die eigenen, menschlichen Werke zerstört. Beginnend mit der universellen Verkündigung des Evangeliums, die Gott sowohl den Auserwählten als auch den Verworfenen anbietet, die aber nur für die Auserwählten eine wirksame Berufung darstellt. Hier folgt Calvin Augustinus’ Behandlung des johanneischen Themas, dass diejenigen, die auf den Vater hören, auch die sind, die zu Christus kommen (Johannes 6, 44-46).
„Gott bestimmt diejenigen, die er erwählt hat, zu seinen Kindern und ernennt sich selbst zu ihrem Vater. Indem er sie beruft, nimmt er sie in seine Familie auf und vereint sie mit ihm, damit sie zusammen eins sein können. Aber wenn die Berufung mit der Erwählung verbunden ist, legt die Schrift auf diese Weise hinreichend nahe, dass in ihr nichts als die freie Gnade Gottes gesucht werden soll. Denn wenn wir fragen, wen er ruft und warum, antwortet er: wen er erwählt hat. Mehr noch; wenn man zur Erwählung kommt, ist man allseitig von Gnade umgeben.“
Wieder einmal zielt Calvin hier darauf ab, Heilssicherheit in einer ausschließlich monergistischen Anforderung im Ursprung der Erlösung zu gründen. G.C. Berkouwers Analyse ist scharfsinnig:
„Für Calvin ist Erwählung unauflöslich mit der Ablehnung aller Werkgerechtigkeit verbunden. Aus diesem Grund ist die Erwählung untrennbar mit dem Bekenntnis der Heilsgewissheit verbunden.“[21]
So ist die Erwählung für Calvin also unwiederbringlich mit der Soteriologie und ihrem seelsorgerischen Trost im Leben des Gläubigen verbunden. Und das eben gerade, weil sie der Höhepunkt seiner Argumentation für ein Heil ist, dessen Ursache komplett außerhalb von uns ist. Durch jede Phase von Calvins Argumentation führt eine Definition des Glaubens wie ein roter Faden: Ein Glaube, der den menschlich Handelnden nicht mit dem Ursprung desselben verbindet. Auf diese Weise ist die Lehre der Erwählung der Höhepunkt des einzigen, wiederkehrenden Arguments von Buch 3: Die Quelle unserer Erlösung liegt in Gott allein, was dem entsprechend alle „Werkgerechtigkeit“ ablehnt.
Fünf hermeneutische Linsen
Es lohnt sich, Zeit für Calvins Methode der Präsentation der Erwählungslehre zu nehmen. Eingebettet in den einleitenden Aussagen in 3.21, als auch der fest im Herzen seines größeren Argumentes verorteten Lehre, können wir erkennen, warum Calvin sowohl an die „Nützlichkeit“ als auch „ihre sehr süße Frucht“ glaubte.[22] Calvin hat uns fünf Linsen für seine biblische Hermeneutik der Erwählung gegeben. Diese fünf Fenster in die Erwählung zeigen gemeinsam, wie Calvin die Bibel liest: konzentriert auf die Größe Gottes, die sich in seiner Güte zu uns zeigt, indem er seinen Sohn als unseren Retter sendet.
1. Gottes Gnade ist frei
Calvin glaubte, dass die Natur des rettenden Glaubens beweist, dass Gott nicht auf etwas einging, was in uns war, sondern uns eine Verheißung des Lebens vorhielt, die er nicht anbieten musste. Zu Beginn von Buch III stellt Calvin fest, dass nicht alle, die das Evangelium hören, es glauben und zu Christus kommen. Alle sind gleichermaßen tot in der Sünde. Wenn also einige glauben, kann es nicht an etwas in ihnen liegen, dass sie für den Glauben oder für Gottes Gunst veranlagt. Nein, die eigentliche Natur der Gnade, damit sie Gnade ist, besteht darin, dass sie rechtmäßig hätte zurückgehalten werden können. Gott musste uns nicht retten.
Im Herzen der göttlichen Gnade bei der Erwählung steht der zutiefst wundervolle Glaube, dass der vom Vater geliebte Sohn, „nicht getrennt oder zu seinem persönlichen Vorteil geliebt wird, sondern dass er uns, gemeinsam mit sich selbst, mit dem Vater vereint“.[23] Es ist das Maß der Gnade Gottes, dass er die Sünder liebt, „so wie“ er seinen eigenen Sohn liebt. Weil er seinen Sohn (als Haupt seines Leibes, der Gemeinde) liebt, liebt er diejenigen, die er mit dem Sohn verbindet (als seinem Leib) genauso. Calvin sagt über Johannes 17,24:
„Der Titel des Geliebten gehört Christus allein. Daraus folgend hat der himmlische Vater die gleiche Liebe zu allen Gliedern wie zum Haupt selbst, sodass er niemanden liebt außer in Christus.“[24]
Calvin betrachtete den Herrn Jesus Christus als den Mittler zwischen Gott und der Menschheit, und er glaubte, dass Christus auch das Dekret der Erwählung vermittelt. Also ist Christus sowohl derjenige, in dem Gottes Volk auserwählt ist, als auch derjenige, der kommt, um die Errettung zu sichern, die sich aus der Erwählung ergibt. Aber an jedem Punkt ist für Calvin die Tatsache, dass diese Wahl vor Grundlegung der Welt „in Christus“ geschah, die Bestätigung der völligen Unentgeltlichkeit der Wahl. Wiederholt tauchen in seinen Predigten über den Epheserbrief die Themen der Freiheit Gottes bei der Erwählung und das Fehlen aller vorhergesehenen Verdienste der Menschheit, aufgrund unserer innewohnenden Korruption, auf – er drückt sich klar und deutlich aus:
„Hatte Gott also schon ein Auge auf uns geworfen, als er verbürgte, uns zu lieben? Nein! Nein! Denn dann hätte er uns zutiefst verabscheut. Es ist wahr, dass er in Bezug auf unser Elend Erbarmen und Mitgefühl mit uns hatte, um uns zu befreien; das lag aber daran, dass er uns bereits in unserem Herrn Jesus Christus geliebt hatte. Gott musste also sein Muster und Spiegelbild vor sich gehabt haben, in welchem er uns sehen konnte. Das heißt, er musste zuerst auf unseren Herrn Jesus Christus geschaut haben, bevor er uns auswählen und rufen konnte.“[25]
2. Gottes Ehre ist endgültig
Gottes Gnade ist nicht die einzige göttliche Eigenschaft, von der Calvin glaubte, dass sie die Lehre der Erwählung vergrößere. Die Beseitigung aller Gründe für menschliches Rühmen aufgrund der eigenen Erwählung hat eine Kehrseite: Ist Gottes Handeln in der freien Wahl zu begründen, so ermöglicht es uns, Gott allein die endgültige Ehre für unsere Errettung zu geben.
Der beste Ort, um diese Betonung in Calvins Lehre von der Erwählung zu sehen, ist in seinem Kommentar zum Römerbrief und seiner detaillierten Exegese der Kapitel 9-11. Es ist einfach nicht der Fall, dass Calvin eine abstrakte Lehre von der doppelten Prädestination hat, die ihn zwingt (durch ausgedachte Binäre Zahlen über ewige Schicksale), die Art und Weise der biblischen Erwählung in der Heilsgeschichte falsch zu konstruieren. Es ist üblich, von „Calvins rein individualistischer Exegese“ und „seiner Unterbewertung des Konzepts des Bundes in seiner Interpretation von Texten wie Römer 9:18, 22“[26] zu sprechen. Wir können nur annehmen, dass Positionen wie diese die „Institutio“ als einen exklusiven Auszug und nicht als hermeneutischen Leitfaden der exegetischen Aspekte von Calvins Denken behandeln. Tatsächlich ist es aber so, dass der Bund in seinem Kommentar zu Römer wohl Calvins wichtigstes hermeneutisches Konzept in seiner Behandlung von Römer 9-11 ist. (er bezieht sich 39 Mal darauf).
In diesen Kapiteln unterscheidet Calvin eine nachvollziehbare Theologie von Gottes Bund mit Israel. Er unterscheidet den Ursprung des Bundes in der allgemeinen Erwählung (general election) der gesamten Nation, aber den Grund der Bundestreue Gottes in der besonderen Erwählung (particular election) einzelner Personen innerhalb der Nation. Deshalb beginnt Calvin das Thema der Erwählung in der Institutio mit einer Schlussfolgerung, die er aus seiner Exegese von Römer 9-11 gezogen hat:
„So gibt es auch in der gegenwärtigen Zeit einen Überrest, der aus Gnade erwählt ist. Aber wenn es aus Gnade ist, ist es nicht mehr auf der Grundlage von Werken; sonst wäre Gnade keine Gnade mehr“
(Römer 11,5-6)
Um zu beweisen, dass das Heil „allein aus Gottes bloßer Großzügigkeit“ kommt, muss der Theologe den ganzen Weg in die Gefilde der Erwählung erarbeiten. Calvin glaubt, dass:
„Paulus bezeugt deutlich, dass, wenn die Errettung eines Überrestes des Volkes der Erwählung der Gnade zugeschrieben wird, dann anerkannt wird, dass Gott aus reinem Wohlgefallen bewahrt, wen er will, und außerdem, dass er keinen Lohn zahlt, da er nichts schulden kann.“[27]
Diese Auffassung von Gottes Unabhängigkeit von menschlicher Zufälligkeit, ergibt sich Zeile für Zeile aus Calvins Betrachtung von Paulus Darstellung der Rechtfertigung Gottes bei der Erwählung (Römer 9,14). So ist er der Einzige, der das Lob in der Errettung verdient.
3. Unsere Demütigung ist unverzichtbar
Calvins Hermeneutik zur Erwählung in der Bibel ergibt sich konsequent aus den einleitenden Worten der Institutio:
„Fast alle Weisheit, die wir besitzen, das heißt wahre und gesunde Weisheit, besteht aus zwei Teilen: der Erkenntnis Gottes und uns selbst.“[28]
Für Calvin sind Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis „unmittelbar wechselseitig“, so dass wir, wenn wir das eine kennen, sofort dazu gebracht werden, das andere zu erkennen.[29] Ich denke, wir werden beim Umgang mit Calvin und der Erwählung in die Irre gehen, wenn wir eines nicht erkennen. Er glaubt, dass wir im Umgang mit der Erwählung in der Bibel in die Irre gehen werden, wenn wir uns vor Gott nicht richtig sehen, wenn wir uns an die Aufgabe machen. Eine Implikation des Wissens, dass Gott allein in der Erwählung verherrlicht ist, weil wir nichts zu unserer Errettung beitragen, ist, dass tiefe Demut in unseren Herzen entstehen sollte. Wenn es wahr ist, dass Calvins Lehre von der Erwählung versucht, Gott in seiner Majestät zu erhöhen, ist es genauso wahr, dass sie versucht, uns richtig zu lokalisieren. Nicht nur als gefallene Sünder, die ohne Verdienst oder Maß geliebt werden, sondern auch als Geschöpfe.
Eine genaue Lektüre der Institutio von Anfang bis Ende hinterlässt beim Leser den vorherrschenden Eindruck, dass Calvin Gott grundsätzlich als unseren liebenden himmlischen Vater und uns als seine abhängigen Kinder begreift. Es ist ein Bild von enormer Wärme und Schönheit. Das menschliche Subjekt wird jeglichen Beitrags zum Heil beraubt. Uns als Geschöpfen beraubt es nicht der Würde, sondern offenbart, dass wir in unserer Not dennoch tiefer geliebt werden, als wir es uns jemals hätten vorstellen können. Zudem würde unser Lob an Gott für seine Rettung verringert, wenn wir es mit der Prahlerei über das, was wir hinzugefügt haben, vermischen würden.
Eine weitere Linse für die Erwählung in der Bibel folgt unmittelbar daraus.
4. Menschliche Neugierde ist zu zügeln
Die Erwählung kommt aus „den Höhen“ des göttlichen Willens und wird von „verbotenen Nebenwegen“ unergründlicher göttlicher Weisheit begleitet. Calvin glaubt, dass dieses Wissen um Gott und uns selbst dazu führen sollte, dass wir den Wunsch meiden, „Gott kein Geheimnis zu lassen“. Als gefallene Männer und Frauen wollen wir nicht nur alles haben, sondern auch alles wissen. Aber diejenigen, die nicht bereit sind zu erkennen, dass…
„(…) die geheimen Dinge dem Herrn, unserem Gott, gehören“ (Deuteronomium 29,29) „dringen in die heiligen Bereiche der göttlichen Weisheit ein. Wenn jemand mit unbeschwerter Sicherheit in diesen Ort einbricht, wird es ihm nicht gelingen, seine Neugier zu befriedigen, und er wird in ein Labyrinth eintreten, aus dem er keinen Ausweg finden wird.“[30]
Es ist wichtig zu sehen, wie diese Vorstellung von Erwählung ganz mit Calvins Epistemologie[31] und Anthropologie[32] übereinstimmt und wie sich alles aus seiner Interpretation der Schrift ergibt und sie wiederum beeinflusst. Über Römer 9,18 sagt Calvin:
„Wir sollten diese Worte beachten, über wen er will und wen er will im Besonderen.
Paulus erlaubt uns nicht, darüber hinauszugehen.“[33]
Genau an diesem Punkt werden Calvins Lehren von der Erwählung und Prädestination am schärfsten kritisiert. Karl Barth hatte beispielsweise sein Besprechung von Calvin und der reformierten Lehre in seiner Kirchendogmatik. Der Konflikt den Barth mit Calvin über die Erwählung hat ist auf vielen Ebenen lehrreich – nicht zuletzt in der Frage: Wo glauben wir, dass die Bibel uns anweist, ehrfürchtig agnostisch[34] über seine (Gottes) Wege zu sein? Barth glaubt, dass Calvins Lehre uns mit dem „absoluten Dekret“ einige zu retten und andere abzulehnen zurücklässt, sodass Christus rechtzeitig erscheinend den erwählenden Willen Gottes bedient. Hinter diesem Manöver steht demnach eine geheime Erwählung des Vaters. Eine Unwissenheit darüber, warum der im Herrn Jesus offenbarte Gott, einige auserwählt und andere verwirft, untergräbt aber die Fülle der Offenbarung eben dieses Gottes: Wir können ihn durch diesen Bericht nicht vollständig erkennen. Aber die Tatsache bleibt, dass auch in Barths Lehre, wenn wir seine Ablehnung des Universalismus[35] für bare Münze nehmen, die Unwissenheit einfach an einem anderen Punkt in das Denksystem eindringt – in die Eschatologie[36]. Barth stellt sich Gottes Freiheit so vor, dass wir nicht mit Sicherheit sagen können, was er am Ende aller Dinge tun oder nicht tun wird. Hier scheint es, dass der verborgene Gott vom vorzeitlichen Dekret in den Eschaton[37] verlegt wurde.[38]
Paul Helm weist darauf hin, dass die explizite Betonung in der Eröffnung der Institutio auf Weisheit (Religion als „sapientia“) zugleich eine implizite Ablehnung einer anderen Art von Wissen in der Theologie ist. Dieses Wissen, „scientia“ genannt, hat mit theoretischem Verständnis und Gewissheit zu tun. Tatsächlich war Calvin selbst misstrauisch gegenüber dem Begriff „Theologie“, betrachtete ihn weitgehend als einen Begriff der Verachtung für spekulative Denker und bevorzugte stattdessen den Begriff „religio“ (Die Bindung des Selbst an Gott).[39] Obwohl Calvin lange Widerlegungen von Einwänden gegen seine Erwählungslehre liefert, ist die Institutio „kein apologetisches Werk (…) noch Lehrbuch der Theologie. (…) In der Krise der Reformation versucht Calvin, den Charakter der christlichen Religion denen darzulegen, die bereits Christus bekennen.“[40] Das bedeutet, dass Calvin, wenn es um Erwählung und Prädestination geht, nicht darauf bedacht ist, den Ungläubigen die Lehre schmackhaft zu machen. Er erkennt durchgehend an, dass die Erwählung eine Lehre ist, die der Kirche zu ihrem Trost gegeben wurde. Aber mehr als das: Sein besonderes Anliegen für die Gläubigen ist, die Grenzen der Untersuchung an die in offenbarten Grenzen der Schrift zu setzen, denen wir uns mit Ehrfurcht und kindlichem Vertrauen nähern sollten.
Dies führt uns schließlich zu einer anderen Weise Calvins, die Erwählung in der Bibel zu betrachten. Gerade hier ist das, was er uns hinterlassen hat, glaube ich, heute immer noch sehr ertragreich.
5. Banges Schweigen birgt Elend
So wie wir versuchen können, zu viel über die Erwählung zu sagen, indem wir die Grenzen dessen überschreiten, was nur Gott bekannt ist, so können wir auch zu wenig über die Erwählung sagen und sie wie ein Riff auf dem Grund unserer theologischen Ozeane begraben.[41] Es ist mittlerweile offensichtlich, dass es uns einer tiefen Sicht des Wirkens Gottes in der Errettung und von uns selbst als Abhängige seiner Gnade berauben würde, wenn wir nicht über die Erwählung lehren oder predigen würden. Calvin glaubt außerdem, dass es gerade die Lehre der Erwählung ist, wie sie uns vom Herrn Jesus selbst gelehrt wurde, die uns Heilsgewissheit und die sichere Hoffnung auf Herrlichkeit gibt. Und wie Christus lehrt, besteht hierin unser einziger Grund für Festigkeit und Zuversicht: Um uns von aller Furcht zu befreien und uns inmitten so vieler Gefahren, Fallen und tödlicher Kämpfe siegreich zu machen, verspricht er, dass alles, was der Vater ihm anvertraut hat, sicher sein wird. Daraus schließen wir, dass alle, die nicht wissen, dass sie Gottes Eigentum sind, durch ständige Angst verelenden.“[42]
Calvin hat einige Dinge darüber zu sagen, wo wir nicht suchen sollten, um die Erwählung zu verstehen. Der wirkliche Inhalt seiner Lehre ist aber genau dort, wo wir suchen können, um sie zu verstehen. Anstatt also zu versuchen, den Sinn Gottes zu beurteilen, sollten wir auf Christus schauen. Calvin kommentiert Johannes 6,39 und sagt:
„Er verkündet nun, dass das Ziel des Vaters darin besteht, dass die Gläubigen die Sicherheit des Heils in Christus finden.“
Der Weg, wie wir diese Sicherheit erreichen, ist nur durch den Glauben an Jesus. Calvin macht deutlich, dass der Glaube eine ausreichende Grundlage für das Wissen um die eigene Erwählung.
„Wenn Gottes Wille ist, dass diejenigen, die er erwählt hat, durch den Glauben gerettet werden, und er sein ewiges Dekret auf diese Weise bestätigt und vollstreckt, so ist jeder, dem Christus nicht genügt, jeder der neugierig nach der ewigen Vorbestimmung fragt und verlangt, soweit es an ihm liegt, entgegen Gottes Absicht gerettet.“[43]
Es besteht also eine Verbindung zwischen dem göttlichen Willen und dem menschlichen Glauben – das letztere entspringt aus dem ersteren. Die Erwählung ist nicht das Einzige, was Gott für sein Volk anordnet. In einer bemerkenswerten Passage beteuert Calvin:
„Deshalb sind diejenigen verrückt, die ihr Heil oder das der anderen im Labyrinth der Prädestination suchen und sich nicht auf dem wohlbekannten Weg des Glaubens halten. Tatsächlich versuchen sie durch diese fehlgeleitete Spekulation, die Macht und Wirkung der Prädestination zu stürzen; denn wenn Gott uns bis zum Ende erwählt hat, damit wir glauben können, dann wird, wenn man uns den Glauben nimmt, die Erwählung unvollkommen sein. Aber es ist falsch, den ungebrochen und beschlossenen Ratschluss in zwei Teile, in Anfang und Ende aufzubrechen.“[44]
Für Calvin stehen also sowohl die Erwählung als auch der Glaube, der sich aus Gottes Ruf der Auserwählten hin zu Christus ergibt, als eine untrennbare Realität zusammen. Gerade weil die Erwählung mit dem Glauben einhergeht, ist der Glaube an Christus eine gültige Basis für die Gewissheit der Erwählung. Wenn wir in unserer Predigt und Lehre über die Erwählung schweigen, glaubt Calvin, werden wir über ein wunderbares Mittel der Gewissheit schweigen. Diese Zusicherung ergibt sich nicht daraus, dass die Menschen generell zur Erwählung geführt werden, sondern vielmehr zu Christus als den Mittelpunkt unseres Glaubens und damit auch unserer Erwählung. In seiner dritten Predigt über den Epheserbrief antwortet Calvin auf die Frage, wie die Gläubigen ihre Erwählung erkennen können, einfach:
„Durch den Glauben an Jesus Christus. Ich sagte schon, dass der Glaube aus der Erwählung hervorgeht und sogleich die Frucht derselben ist. Das zeigt, dass die Wurzel im Innersten verborgen sind. Wer dann glaubt, ist damit sicher, dass Gott in ihm gewirkt hat. Der Glaube ist gleichsam die Kopie, die Gott uns vom Original unserer Adoption gibt. Gott hat seinen ewigen Ratschluss, und er behält sich den Haupt- und Originalbericht vor, von dem er uns durch den Glauben eine Kopie gibt.“[45]
Wir sollten hier die Betonung der Gewissheit beachten. In dem lieblichen Bild unseres Glaubens als Kopie, von der Gott das Original hält, reicht der Glaube an Jesus als Erlöser wirklich aus, um uns das sichere Wissen zu geben, dass wir zu Gott gehören. Wir erkennen, wie all dies Teil von Calvins Glaubenslehre ist, wie sie in der Institutio dargelegt ist. Unser Glaube an Jesus hat seinen Ursprung nicht in uns, als wäre es ein Werk, das wir verrichten würden; Vielmehr ist der Glaube ein Zeichen für uns, dass wir überhaupt nichts zu unserer Erlösung beitragen. Calvins Schriften kleiden Christus in Metaphern, die seine Beziehung zur Erwählungslehre beschreiben: Christus ist ein „Buch“, in das alle Auserwählten „geschrieben“ sind; Christus ist ein „Spiegel“, der Ort, an den wir „schauen“, um unsere eigene Erwählung zu sehen, und tatsächlich „schaute“ hier der Vater hinein, um uns zu erwählen; Christus ist ein Hüter, der die Erwählung beschützt, die uns der Vater gegeben hat; und Christus ist ein Unterpfand, das unsere Erwählung garantiert. Der Sinn der Metaphern sollte nicht übersehen werden, denn sie beschäftigen sich auf unterschiedliche Weise mit dem, was wir wirklich sehen und wissen können und kommunizieren die Art von Gewissheit, die uns Sicherheit gibt.
Das bedeutet, dass Calvin, wenn wir in der Bibel über die Erwählung lesen, nicht möchte, dass diese Lehre Verzweiflung oder Selbstbeweihräucherung hervorruft. Er beabsichtigt einfach, dass unsere eigene Unfähigkeit, uns selbst zu retten, uns dazu führt, dass Christus völlig ausreicht, um zu retten und dadurch Gott als Vater zu erkennen:
„Mit Calvin hat die Erwählung mit der Überraschung zu tun, dass man bei Gott sicher ist, letztendlich sicher ist. Das ist der Kern der Lehre.“[46]
Autor – David Gibson
Originaltitel – Mercy on Every Side, Calvins misunderstood doctrine of election
Link – https://www.desiringgod.org/articles/mercy-on-every-side#fn40
Veröffentlichung – 18.08.2020
Übersetzt von – Lars Dell, Manuel Dell
David Gibson (@davidngibbo) (PhD, University of Aberdeen) ist Pfarrer der Trinity Church in Aberdeen, Schottland, wo er mit seiner Frau Angela und den vier kleinen Kindern Archie, Ella, Sam und Lily lebt. Er ist Autor von Living Life Backward: How Ecclesiastes Teaches Us to Live in Light of the End (Crossway, 2017) und Mitherausgeber von From Heaven He Came and Sought Her: Definite Atonement in Historical, Biblical, Theological and Pastoral Perspektive (Crossway, 2013).
[1] Marilynne Robinson, The Death of Adam: Essays on Modern Thought (New York: Picador, 2005), 206.
[2] Fred H. Klooster, Calvin’s Doctrine of Predestination, Calvin Theological Seminary Monograph Series 3 (Grand Rapids: Calvin Theological Seminary, 1961).
3 Dieser Artikel enthält Material aus Reading the Decree: Exegesis, Election and Christology in Calvin and Barth (London and New York: T&T Clark, 2009); und “A Mirror for God and for Us: Christology and Exegesis in Calvin’s Doctrine of Election,” International Journal of Systematic Theology 11, no. 4 (Oktober 2009): 448–65.
4 Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 3 Auflage 2012. Aus der Vorrede von Calvin.
5 Siehe zum Beispiel, Stephen Edmondson, “The Biblical Historical Structure of Calvin’s Institutios,” Scottish Journal of Theology 59, no. 1 (2006): 1–13; Richard A. Muller, The Unaccommodated Calvin: Studies in the Foundation of a Theological Tradition (New York: Oxford University Press, 2000).
[6] Soteriologie – Lehre über das Heil
[7] Calvin, Institutio III.1.1.
[8] Calvin, Institutio III.1.1.
[9] R.B. Gaffin Jr., “Biblical Theology and the Westminster Standards,” Westminster Theological Journal 65 (2003): 165–79 (176).
[10] Gaffin, “Biblical Theology,” 176–77.
[11] Calvin, Institutio 3.2.7.
[12] monergistisch – unabhängig vom Menschen, Gegenteil zu synergistisch – mit dem Menschen
[13] Calvin, Institutio 3.2.30.
[14] Calvin, Institutio 3.21.1.
[15] Calvin, Institutio 3.21.5.
[16] Synergismus – mit dem Menschen mitwirkend
[17] Calvin, Institutio 3.21.1.
[18] Calvin, Institutio 3.21.1.
[19] Calvin, Institutio 3.21.5.
[20] Calvin, Institutio 3.22.3.
[21] G.C. Berkouwer, The Triumph of Grace in the Theology of Karl Barth, trans. H.R. Boer (Grand Rapids: Eerdmans, 1956), 284.
[22] Calvin, Institutio 3.21.1.
[23] John Calvin, The Gospel according to St. John, 11–21, and the First Epistle of John, ed. D.W. Torrance and T.F. Torrance, trans. T.H.L. Parker, Calvin’s New Testament Commentaries, vol. 5 (Grand Rapids: Eerdmans, 1994), 97.
[24] Calvin, Gospel according to St. John, 11–21, 149.
[25] John Calvin, Sermons on the Epistle to the Ephesians (Edinburgh: Banner of Truth, 1973), 33.
[26] C. van der Kooi, As in a Mirror: John Calvin and Karl Barth on Knowing God (Leiden: Brill, 2005), 164.
[27] Calvin, Institutio 3.21.1. Calvins Verständnis der Erwählung Israels und der Kirche in seiner Auslegung von Römer 9–11 erweist sich als wesentlich komplexer und facettenreicher, als oft angenommen wird. Die Erwählung Israels ist sowohl allgemein als auch speziell, und Calvin bewegt sich frei zwischen diesen beiden Formen, wenn er über Israel als Gottes auserwähltes Volk spricht. Ebenso kann „Kirche“ in beiden Formen der Erwählung auf Israel angewendet werden, sodass die Beschreibung der Kirche in Calvins Theologie als Ersatz oder Aufhebung Israels, viel zu zweideutig/allgemein ist, um wirklich nützlich zu sein.
[28] Calvin, Institutio 1.1.1.
[29] Eine ausgezeichnete Behandlung in Paul Helm, “The Knowledge of God and of Ourselves,” in “Calvin at the Centre” (Oxford: Oxford University Press, 2010), 8.
[30] John Calvin, The Epistles of the Apostle Paul to the Romans and to the Thessalonians, ed. D.W. Torrance and T.F. Torrance, trans. Ross MacKenzie, Calvin’s New Testament Commentaries, vol. 8 (Grand Rapids: Eerdmans, 1995), 207.
[31] Epistemologie – Wie Wissen zustande kommt und Voraussetzungen für Erkenntnis. Auch Erkenntnistheorie genannt.
[32] Anthropologie – Die Lehre vom Wesen des Menschen und seiner Bestimmung vor Gott.
[33] John Calvin, The Epistles of the Apostle Paul to the Romans and to the Thessalonians, ed. D.W. Torrance and T.F. Torrance, trans. Ross MacKenzie, Calvin’s New Testament Commentaries, vol. 8 (Grand Rapids: Eerdmans, 1995), 207.
[34] agnostisch – Das Vorhandensein letzter Erkenntnis verneinend (keine definitive Antwort zu haben)
[35] Universalismus – Die Lehre, dass jeder eines Tages gerettet und mit Gott versöhnt sein wird.
[36] Eschatologie – Die Lehre von den letzten Dingen (Tod, Auferstehung, Neue Welt)
[37] Eschaton – Die Nachhistorische Zeit, die dem Ende der Welt vorausgeht. (antikes griechisch ἔσχατον (éskhaton), Neutrum Singular von ἔσχατος (éskhatos, “zuletzt”).
[38] Siehe David Gibson, “Barth on Divine Election,” in The Wiley Blackwell Companion to Karl Barth, ed. George Hunsinger and Keith L. Johnson (Hoboken, NJ: John Wiley & Sons Ltd., 2020), 47–58.
[39] Helm, Calvin at the Centre, 5–6.
[40] Helm, Calvin at the Centre, 8.
[41] Calvin, Institutio 3.21.3.
[42] Calvin, Institutio 3.21.1.
[43] John Calvin, The Gospel according to St. John, 1–10, ed. D.W. Torrance and T.F. Torrance, trans. T.H.L. Parker, Calvin’s New Testament Commentaries, vol. 4 (Grand Rapids: Eerdmans, 1995), 162.
[44] Calvin, Gospel according to St. John, 1–10, 162, eigene Hervorhergebung
[45] Calvin, Sermons on Ephesians, 47.
[46] Van der Kooi, As in a Mirror, 165.