Im Folgenden einige Überlegungen darüber, wie gesunde Meinungsbildung und Meinungsäußerung funktionieren können.
Kein neutrales Land
Wer kennt sie nicht, die Gesprächspartner, die sich in einer Runde sich für keine der Streitpositionen vereinnahmen lassen, den neutralen Boden für sich beanspruchen und so auf „beide Seiten der Medaille“ blicken wollen?
Ich muss eingestehen, dass mich solches Verhalten lange Zeit stark irritierte. Aber vor kurzem ist mir in einem Gespräch bewusst geworden, dass mein Gesprächspartner deswegen mit einer Positionierung zögert, weil er die Folgen durch eine Positionierung viel besser wahrnimmt als ich. Bis zu diesem Gespräch kam mir noch nie die Idee, dass es eine Form von Weitsicht sein, sich nicht zu positionieren.
„Die Hirnmasse“ solcher arbeitet einfach weiter und schneller als meine und sieht viel mehr Variationen. Und je mehr Verzweigungen man wahrnimmt, desto zögerlicher fällt die Entscheidung des zu gehenden Weges.
Dennoch sehe ich insgesamt eine gewisse Art von Gefahr darin, zu lange damit zu zögern, sich eindeutig zu positionieren.
Was mir hilft ist die Erinnerung daran, dass „keine Meinung auch eine Meinung ist“. Beispiel: Bei jeder Wahl geben auch die Nichtwähler eine Meinung von sich (und ich sage das als Bekennender Nichtwähler).
Wirklich nur zwei Alternativen?
Wenn man sich klar macht, dass es obwohl es häufig zwei starke Pole bei einer Meinungsverschiedenheit gibt, es insgesamt unzählige Nuancen und Varianten dazwischen gibt, hilft auch zu verstehen, dass man sich schließlich doch immer positioniert:
Praktisch am Beispiel der Taufe: Nun gibt es Christen, die Babys taufen und Christen, die das nicht tun. Eine Haltung in der Form „, dass man nicht mit Bestimmtheit sagen könne, was richtig sei“ wäre dann aber ebenfalls eine ganz klare Positionierung. Und hier gerade tut sich eine nahezu unendliche Meinungsvielfalt auf: Von Strikten Baptisten, die von jedem eine Wiedertaufe verlangen, selbst von anderen Glaubensgetauften, wenn sie nicht durch Untertauchen getauft wurden, über strikte Presbyterianer, die nur in ihrer Ortsgemeinde das Brot brechen (und nicht mit „Großtaufgesinnten“) über Christen, die nur eine Form praktizieren, aber beide zum Brotbrechen zulassen bis hin zu Gemeinden, die die Gemeindeglieder entscheiden lassen, welche Taufe sie wählen.
Warum in die Ferne schweifen…
Eine Ausbleibende Positionierung kann manchmal bloß besonders Weitsichtig wirken, ohne es zu sein. Vielleicht sind die Motive gar bloß Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit im Sinne fehlender Lernbereitschaft.
Es ist also zunächst eine zulässige und gute Antwort, wenn ein Christ sagt, „Ich weiß nicht, welche Form der Taufe die richtige für den Christen ist“. Aber eigentlich ist diese Gegenfrage dann ein Muss: „Was ist nun deine Strategie, um in dieser Frage mehr Licht zu bekommen?“.
Das Wissen darum, dass das Reich Gottes höchstwahrscheinlich mehr Kindertäufer als Baptisten ließ mich einige Zeit darum ringen, ob nicht doch der baptistische Weg der wahre ist. Genau die oben genannte Antwort war auch meine: “Ich weiß nicht, welche Form der Taufe die richtige für den Christen ist”. Für die daraus entstandene Unruhe bin ich rückblickend äußerst dankbar, denn sie führte zu einem genaueren Blick auf das Thema Taufe und aus dieser Welt “unter Wasser” konnte ich einen großen Schatz heben. Es war peinlich einzugestehen, dass man sich bei der Frage nach der Taufe unsicher sei (“Was, du bist doch Prediger und biblische Lehre sollte sitzen!”). Aber dieses Eingestehen führte zu einer besseren Analyse dieser Frage und vielen Neuentdeckungen: Von der Bedeutung des Bundesversprechens in der Taufe, von der Einheit mit Christus in seinem Tod und seiner Auferstehung bis hin zum Symbol der Wiedergeburt das darin zu finden. Wer mehr zu diesen Neuentdeckungen lesen möchte, findet ein paar Artikel auf diesem Blog.
Unergründlichkeit ist nicht das Gegenteil von Klarheit
Das zeigt auch, dass es in manchen Fällen schlicht töricht ist, „auf den neutralen Boden zu pochen“. Da wäre die Frage nach der Errettung: Ist sie nun Gottes Werk an seinen Auserwählten oder ein allgemeines Angebot für alle, dass die Menschen in ihrer Freiheit wählen können? In nun unzähligen Gesprächen habe ich gemerkt, dass man durch „die Weigerung sich festzulegen“ einfach nicht seriös mit den dahinterliegenden Fragen umgeht. Sehr häufig klingen Argumente wie, dass es „womöglich nicht so wichtig ist“ oder dass es eine Frage ist „die man nicht in aller Tiefe ergründen wird können“ oder „einfach zwei Seiten einer Medaille gesehen werden“. Aber das ist schlicht weg nicht falsch, wenn man sich ernsthaft mit der Frage befasst: Ist das Heil nun allein aus Gnaden oder aus Gnaden und meinem Bemühen? Bin ich allein aus Glauben gerechtfertigt oder muss ich diese Rechtfertigung erwirken? Hat Christus alles für meine Rettung getan, oder muss ich „mich selbst retten“?
Obwohl Gespräche mit entschiedenen Arminianern für mich immer sehr schmerzhaft sind, sind sie mir in ihrer Entschiedenheit immer lieb gewesen. Es ist schlicht klar, was sie vertreten.
Jemand aber, der meint „Gottes Souveränität sei ein zu tiefes Thema, unergründlich für den menschlichen Verstand“, hat meines Erachtens, obwohl er faktisch recht hat, mehr über seine eigene Gleichgültigkeit zu den oben genannten Fragen gesagt, als über seinen Respekt vor den Geheimnissen Gottes.
Denn: Welches Thema werden wir je völlig ergründen können? Wer mag die „Dreieinigkeit“ endgültig erfasst haben? Hieße das nun, jede Form der Entartung der Dreieinigkeit damit zu rechtfertigen? Wer mag die zwei Naturen Christi endgültig erfassen, gleichzeitig völlig im Blick haben? Wer würde sich das anmaßen, hier vollständige Erfassung des Unendlichen zu haben? Hieße das nun, jede Entgöttlichung oder Entmenschlichung Christi zu akzeptieren?
Erkenntnis ist das Kennenlernen einer Person
In unserer Zeit wird viel Aufhebens darüber gemacht, dass echte und wahre Erkenntnis nicht möglich sei, da wir zu beschränkt sind, um die unendlichen Facetten eines Themas wahrheitsgemäß zu erfassen.
Diese Haltung lehne ich entschieden ab, den uns als Christen liegt die Antwort auf diese These in dem Ausspruch Christi offenbar: „Ich bin die Wahrheit“. Als Christen wissen wir, dass das Verstehen von Wahrheit in der Erkenntnis Christi liegt. Wer Christus hat, hat auch die Wahrheit. Merken wir, welche Befreiung von einer perfektionistischen Erkenntnis hier im Kennenlernen Christi liegt?
Christus kennenlernen, dass kann Mann und Frau, Sklave oder Freier, ein intellektuelles Genie genauso wie ein Kind! Wenn ich in eine Person kennenlerne, weiß ich etwas Reales und Wahres über diese Person, auch wenn meine Erkenntnis nie völlig erschöpfend oder umfassend sein wird. Wie viel mehr gilt das für die Person Jesu Christi, die nie gelogen oder geschauspielert oder geheuchelt oder sich künstlich verstellt hat. Hier ist echte Erkenntnis möglich, die dabei doch immer Stückwerk bleiben wird.
Das finde ich sehr befreiend: Wenn es sich in der Ewigkeit herausstellen sollte, dass ich das mit der Taufe immer falsch verstanden habe, und man doch auch Säuglinge hätte taufen können, dann wird mein Festhalten an der christlichen Taufe doch richtig gewesen sein. Denn damit drückte ich aus, dass ich der Welt mit Christus gestorben bin, dass ich eins bin mit ihm in Tod und Auferstehung. Dass ich mit der Taufe ein Bundeszeichen trage, eine Vergewisserung dessen, was Christus mir im Neuen Bund zusagt! Ein Zeichen der Rettung wie die Arche Noahs, das uns zum besseren Holz, nämlich dem Holz Christi führt.
Und doch werde ich auch bei all diesen Dingen, die ich wahrlich und recht erkannt habe, ebenso erkennen, dass all meine Erkenntnis nur Stückwerk war und ich sehr viel Tiefe nie erfasst habe.
Und schließlich werden wir Christus erkennen, wie er uns erkannt hat, in einer ungeahnten Fülle, und doch wird jede unvollkommene Erkenntnis Christi, die wir bereits hier auf Erden haben nicht falsch gewesen sein, sondern nur durch die vollkommene bestätigt und erfüllt. Ehrlich: Auf diese Fülle der Erkenntnis Christi freue ich mich!
Keine Meinung
Einige abschließende Überlegungen
- Wenn wir aktuell eine Meinung abgeben, dann ist es natürlich immer auch nur eine Momentaufnahme. Fehlende Gewissheit kann es morgen geben und umgekehrt. Jemand, der heute entschieden Säuglinge tauft, kritisiert sie morgen. Auf eine gewisse Weise kann es Ausdruck der Leichtfertigkeit sein, wenn wir „unsere Meinung nach Belieben ändern“. Um beim Beispiel der Taufe zu bleiben, denke ich an den Theologiestudierenden, der plötzlich doch seine Kinder taufte und das natürlich hochtheologisch begründete, aber es schließlich doch nur tat, da er so eine Ordination in Aussicht hatte.
- Dennoch ist es richtig bereit zu sein, seine Meinung zu ändern. Nicht immer muss das mit einer 180° Wende geschehen, wie es bei Paulus auf den Weg nach Damaskus geschah.
- Zuletzt muss ein Gegenpol beleuchtet werden: Natürlich ist es kaum sinnvoll zu allem und jedem eine Meinung zu haben und man wird filtern müssen. Diese Stelle ist nahezu die in der Meinungsbildung am wenigsten beleuchtete: So hat man eine Meinung zum Einmarsch Russlands in der Ukraine, aber hat sich kaum Mühe gegeben, die Sachlage zu verstehen. Da wäre es besser, man schwiege zur Sache und stünde zu seiner mangelnden Kenntnis. Das erfordert Mut und wäre doch der erste Schritt zur Weisheit: “Auch ein Tor, wenn er schwiege, würde für weise gehalten und für verständig, wenn er den Mund hielte.” (Sprüche 17,28). “Bock auf Meinung” fängt somit damit an, dass wir die Themen suchen, die es wert sind, sich zu positionieren. Hier gibt es übrigens einen Relevanzkompass: Je näher eine Frage am Kreuz Christi liegt, desto relevanter ist sie und desto dringender fordert sie eine Positionierung!
Was denkt ihr? Was hilft euch, in euren “Meinungen” zu reifen? Wann ist es nötig, sich klar zu positionieren? Welche “Meinungsänderung” prägt euer denken? Schreibt mir gerne einen Kommentar oder eine persönliche Mail an pauli @ glaubend.de
Zu mancher Meinung/Überzeugung springt man aber auch je nach gehörter Predigt, einem Gespräch oder Buch, auch Vergangene Zeit/Reife spielt eine Rolle.
Bspl. Entrückung der Gemeinde (vor/während/nach Trübsal) da bin ich inzwischen genau wieder da wo ich mal war