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2016 war Kaeley McEvoy Studentin am Union Theological Seminary in New York und Praktikantin in der Judson-Gedächtniskirche in Washington Square. Sie hatte nicht damit gerechnet, schwanger zu werden; ein Langzeitimplantat zur Empfängnisverhütung hätte das eigentlich verhindern sollen. Aber die rosa Linie auf dem Teststreifen sagte unerbittlich die Wahrheit
Die St. John the Divine-Kathedrale ist die Mutterkirche der Episkopal-Diözese von New York und das größte Kirchengebäude der Vereinigten Staaten überhaupt. Kaely und ihr Freund machten sich auf den Weg in die St. Savior-Kapelle wo eine Bronzefigur namens Christa hängt: eine nackte weibliche Figur, die an ein Kreuz genagelt ist. Dort betete dieses unerwartet schwanger gewordene Paar. Sie beugten ihr Haupt vor dem Christus, der nicht Christus war – dann ließ der junge Mann seine Freundin allein und stellte sich an die Tür. Während sie mit einem Arzt telefonierte, um einen Termin für eine Abtreibung auszumachen, schickte ihr Freund jeden weg, der hereinkommen wollte: „Das hier ist ein heiliger Ort. Hier passiert etwas Heiliges, und Sie können jetzt gerade nicht hinein.“
Das ist die Geschichte, die McEvoy in der Washington Post und anderen Publikationen erzählt hat, eine Geschichte, die sie in hochdotierten Vorträgen überall im Land verkauft hat. Vielleicht ist es wirklich so passiert, wie sie behauptet. Es ist eine außergewöhnliche Geschichte von mythologischem Charakter: Auf heiligem Boden wählt eine junge Frau eine Nummer. Am anderen Ende verkündet der Bote große Freude: Sie wird eine Abtreibung haben. Das ist ein Abbild der Verkündigung an Maria.
McEvoys Abtreibung erfährt ihre Rechtfertigung neun Monate später bei einer Dinner Party. Der Gastgeber sagt, als er von ihrem Schwangerschaftsabbruch hört: „Weißt du, wir hätten heute ein Baby dabeihaben können. Das wäre okay gewesen.“ McEvoy erwidert: „Aber ich hätte es nicht gewollt.“ Christliche Abtreibungsgegner sprechen insbesondere von solchen Abtreibungen wie der von McEvoy, die auf „Ich habe es nicht gewollt“ beruhen, als einer Form von Kinderopfer, blutigem Mord auf dem Altar des Ego-Gottes. Die Kinderopfer-Metapher fasst den Schrecken einer Kultur zusammen, für die Abtreibung im Zentrum dessen steht, was euphemistisch als „reproduktive Gesundheit“ bezeichnet wird. McEvoys Abtreibungsgeschichte passt in dieses Kinderopfer-Schema. Aber sie macht es auch komplizierter. Im großen Abtreibungsdrama erwartet man eigentlich, dass die Abtreibungsgegner die Religiösen sind, die meinen, sie müssten ihre besonderen Überzeugungen jedem auferlegen. Aber nun kommt McEvoy – mit ihrem christlichen Glauben und ihren Gebeten und ihrer „heiligen Abtreibung“. Falsch, ohne Frage. Aber wirkungsvoll.
„Ist Abtreibung heilig?“ Diese Frage stellt eine Schlagzeile in der Ausgabe des New Yorker vom 16. Juli 2022. Sie erschien in den Wochen nach der Aufhebung des Urteils von Roe vs. Wade durch Dobbs vs. Jackson. Jia Tolentino schildert darin, wie sie sich zum Anliegen der radikalen Abtreibungsrechte bekehrte, und zwar als Folge ihrer eigenen, freiwilligen und gewünschten Schwangerschaft und Mutterschaft. Sie war nicht „gezwungen“ worden, ein Baby zu bekommen, sie hatte keinerlei materiellen Probleme gehabt, sondern hatte sich frei für ihr Baby und die Lebensveränderung, die das Baby mit sich brachte, entschieden. Und all dies führte sie zu einer quasi-religiösen Erkenntnis: „Ich habe diese permanente Neuordnung meiner Existenz frei gewählt. Diese Willensentscheidung hatte etwas Heiliges.“
Mit anderen Worten: Nicht die Schwangerschaft oder das Baby waren heilig, sondern ihre eigene Befugnis, über den Ausgang der Schwangerschaft zu entscheiden. Sie stellt einen Gegensatz auf zwischen dieser heiligen Willensentscheidung und dem „Zwang durch Gesetz“, das Kind zu gebären, bzw. der „Notwendigkeit“, das Kind wegzugeben. Für Tolentino ist ihre freie Entscheidung wesentlich für die Beziehung zu ihrem Kind: „Ich fühlte mich in der Lage, mein Baby voll und ganz zu lieben, weil ich mich entschieden hatte, ihm meinen Körper und mein Leben zur Verfügung zu stellen.“ In Tolentinos Konzept ist Wahlfreiheit die notwendige Voraussetzung für Liebe und Verantwortung.
Seit den 1970er Jahren wird Abtreibung mit dem Argument verteidigt, dass sie in die Privatsphäre und unter das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper fällt: „Mein Körper, meine Entscheidung.“ Die juristischen und philosophischen Debatten, die in dem Fall Roe gegen Wade ihren Höhepunkt fanden, betrachteten Abtreibung im Kontext von konkurrierenden Rechten: Dem Recht der Frau über ihren eigenen Körper und dem Recht des Babys, nicht getötet zu werden. Roes Lösung bestand darin, eine Frist festzulegen, nämlich das Ende des zweiten Schwangerschaftsdrittels. Nach Ablauf dieser Frist konnte das Lebensrecht des Babys durch staatliche Gesetzgebung anerkannt werden und Vorrang haben vor dem Recht der Frau auf Abtreibung. Ob es sich um Leben handelt, war nie die Frage; die Frage war immer, ob und wann das ungeborene Kind ein eigenständiger Träger von Rechten wird.
Dabei ging es nicht um Moral. Selbst da, wo Abtreibung gesetzlich erlaubt war, gab es einen kulturellen Konsens, dass Abtreibung bestenfalls das kleinere Übel war, ein letzter Ausweg, vielleicht notwendig, aber dennoch falsch. Diese Beurteilung spiegelt sich im Slogan der 1990er und frühen 2000er Jahre: „Sicher, legal und selten“. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts betonte die religiöse Lebensrechtsbewegung die Heiligkeit des Lebens und die Sündhaftigkeit des Tötens als moralische Grundlage für ein absolutes Abtreibungsverbot. Die öffentliche Meinung schien sich in Richtung einer stärkeren Einschränkung der Abtreibung zu bewegen, was bewies, dass Wahlfreiheit allein eine schwache Grundlage ist. Schließlich kann auch eine frei getroffene Entscheidung falsch sein.
In den 2010er Jahren wehrten sich die Abtreibungsbefürworter gegen die moralische Zensur, die der Slogan „sicher, legal und selten“ implizierte, und begannen, wie Wesley Smith es nannte, „eine ehrlichere Pro-Abtreibungs-Kampagne“ zu führen. Für radikale Abtreibungsbefürworter leiden die Frauen nicht durch die Abtreibung, sondern durch die Stigmatisierung und die Scham, mit der die Kultur die Abtreibung umgibt. Einige Aktivisten haben einen emotional brutal scheinenden Ansatz gewählt, indem sie jegliche Bedeutung eines Schwangerschaftsabbruchs einfach leugnen. Aber das Verdrängen funktioniert nicht wirklich: Für viele Frauen, ob religiös oder nicht, ist ein Schwangerschaftsabbruch ein einschneidendes Lebensereignis. Und so ist eine neue religiöse Interessenvertretung entstanden. Katey Zeh, eine „ordinierte baptistische Pastorin“ und Mitglied des Planned Parenthood’s Clergy Advocacy Board[1], beschreibt ihren Dienst als „Arbeit am Abbau des Stigmas der Abtreibung in mir selbst, in der Kirche und in der Welt, damit wir anfangen können, uns voll und ganz und liebevoll für die Menschen in unseren Gemeinschaften einzusetzen, die abtreiben.“ In ihrem Buch A Complicated Choice: Making Space for Grief and Healing in the Pro-Choice Movement (2022)[2]) ruft Zeh „Nachfolger Christi“ dazu auf, „das gesamte Spektrum der Abtreibungserfahrungen zu würdigen und heilige Räume für jeden zur Verfügung zu stellen, der auf diesem Weg unterstützende Seelsorge braucht.“
Religiose Führungspersönlichkeiten wie Zeh treten für Abtreibung als moralisches Gut ein. Anfang 2022 stellte die Washington Post fest, dass es eine „zunehmend mutigere und sichtbarere religiöse Bewegung für reproduktive Wahlfreiheit“ gibt, „ein harter Rückschlag für das jahrzehntelange amerikanische Narrativ, dass ein frommer Mensch Abtreibung nur als Mord beurteilen kann.“ Die Bewegung, die eine theologische Begründung und religiöse Rechtfertigung für Abtreibung liefert, begann mit Howard Moody, der von 1956 bis 1992 der radikal-progressiven Judson-Gedächtniskirche vorstand – eben der Kirche, wo McEvoy im Jahr ihrer heiligen Abtreibung ihr Praktikum absolvierte.
Moody, der von den American Baptist Churches und der United Church of Christ ordiniert worden war, war die treibende Kraft hinter dem Clergy Consultation Service on Abortion (einem Beratungsdienst von Geistlichen für Abtreibung). Dieses Netzwerk aus protestantischen Geistlichen und Rabbinern bestand schon vor dem Roe-Prozess und stellte unter dem Schutzmantel seelsorgerlicher Schweigepflicht den Kontakt zwischen Frauen und Abtreibungsärzten her, wenn nötig auch unter Umgehung von Recht und Gesetz. Als 1973 der Fall Roe entschieden wurde, war die Gruppe auf 3000 Mitglieder in 38 Bundesstaaten angewachsen und hatte 450000 Frauen Abtreibungen vermittelt. Moody nahm auch bei anderen progressiven Anliegen wie Obdachlosigkeit, Drogensucht und AIDS eine Führungsrolle ein. Aber er tat sich vor allem in der religiösen Befürwortung von Abtreibung hervor. Seine „Theologie der Abtreibung“ liefert den Rahmen für die heutige religiöse Pro-Abtreibungs-Bewegung.
Nach Roe war der Clergy Consultation Service überflüssig geworden. Aber Moodys Nachfolger arbeiteten weiter an der an der Entwicklung eines religiösen Rahmenwerks für eine abtreibungsfreundliche Politik. 1973 wurde die Religious Coalition for Abortion Rights (Dt.: Religiöse Vereinigung für Abtreibungsrechte) gegründet. Anfangs suchte sie die protestantischen Mainstream-Kirchen und jüdischen Organisationen, die für die Liberalisierung der Abtreibungsgesetze gekämpft hatten, unter ein Dach zu bringen, um eine mächtigere Lobby für gesetzlichen Schutz zu schaffen. Um 1990 hatte die Gruppe, die sich jetzt Religious Coalition for Reproductive Choice (Dt.: Religiöse Vereinigung für reproduktive Wahlfreiheit) nannte, ihre Mission ausgeweitet und religiöse Ressourcen wie Gebete, Predigten, Glaubensbekenntnisse und Rituale entwickelt. Die Befürwortung der Abtreibung hatte nun eine spirituelle, theologische und moralische Sprache gefunden.
2003 stellten Michael J. Gorman und Ann Loar Brooks in ihrem Exposé Holy Abortion?: A Theological Critique of the Religious Coalition for Reproductive Choice[3] eine Kluft zwischen zwei Positionen fest. Auf der einen Seite bekannten sich die meisten Gruppen des protestantischen Mainstreams zu einer bedingten Unterstützung der Abtreibung als “tragischem letztem Ausweg, der im Allgemeinen vermieden werden sollte, und der nicht ohne weiteres gebilligt werden kann” – und auf der anderen Seite bewarben die theologischen Jünger von Moody von der der Religious Coalition for Reproductive Choice „Abtreibung als ein heiliges, moralisches, befreiendes, ermächtigendes göttliches Geschenk und Recht.“ Dass die großen religiösen Gruppen es ablehnten, sich von dieser radikalen Theologie zu distanzieren, verlieh der Religious Coalition for Reproductive Choice den Anschein der Legitimation. Und als sich in den 2010er Jahren der Kampf um die Abtreibung unverhohlener auf das religiöse Terrain verlagerte, bot sich das ethische und theologische Rahmenwerk, das unter der Schirmherrschaft der Coalition still und leise Form angenommen hatte, als eine gültige christliche Position an.
Willie Parker ist ein Paradebeispiel. Als Vorstandsmitglied der Religious Coalition for Reproductive Choice wurde er Mitte der 2010er Jahre zum Vorzeigegesicht einer vorgeblich christlich-moralischen Argumentation für Abtreibung. Einige Jahre lang war er die vermutlich meistgefeierte Persönlichkeit unter den Abtreibungsbefürwortern in Amerika. Er sagte im Kongress für den „Women’s Health Protection Act“ [4] aus, erhielt den Margaret Sanger-Preis von Planned Parenthood und wurde im New York Times Magazine, im New Yorker, im Esquire und im Rolling Stone Magazine porträtiert. Seine Memoiren Life’s Work: A Moral Argument for Choice[5] wurde 2017 auf dem Höhepunkt seiner Bekanntheit unter großem Beifall veröffentlicht.
Parker war der Mann der Stunde. Der in einer armen schwarzen Familie im Süden geborene und im fundamentalistischen christlichen Glauben aufgewachsene Geburtshelfer weigerte sich zunächst, Abtreibungen vorzunehmen, bis er sich zum Fürsprecher und Aktivisten bekehrte. Nach einer ‚Erweckung‘, die ihn dazu brachte, die moralischen Grundlagen des Glaubens seiner Kindheit zu verwerfen, widmete er seine medizinische Karriere der Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen auf Verlangen. Meist tat er das für arme schwarze Frauen in Kliniken und Krankenhäusern, die aus öffentlichen Mitteln finanziert wurden. Sein Buch ist voll von ergreifenden Berichten über seine Bemühungen, „unnötiges Leiden zu lindern“, indem er Abtreibungen durchführte, wann immer er darum gebeten wurde. Seiner Meinung nach folgt er in seiner Praxis dem Aufruf Jesu im Gleichnis vom barmherzigen Samariter: „Der Glaubende geht auf eine Frau in Not zu, um ihr zu helfen und nicht, um sie zu verurteilen oder ihr irgendeine Einschränkung, Strafe oder Schande aufzuerlegen.” Seine Auffassung von christlicher Nächstenliebe ist eng und spezifisch: Diese Frauen brauchten Hilfe; die Hilfe, die sie brauchten, war Abtreibung, und er war in der Lage, sie ihnen zur Verfügung zu stellen. Abtreibung zu ermöglichen wird so zu einem Werk Gottes.
Parkers christlicher Glaube definiert Nächstenliebe damit, den Menschen zu geben, was sie sich wünschen. Für die liberalen Medien war das ein gefundenes Fressen. Begeistert stürzten sie sich auf einen Christen, der in der Abtreibungsdebatte zur „richtigen Seite“ übergewechselt war. Aber christlicher Glaube ist das nur dem Namen nach. Parker lehnt den biblischen christlichen Gott ab, der seiner Meinung nach eine Art Siri ist, die einem sagt, ob man nach links oder rechts abbiegen soll. Stattdessen plädiert er für „ein neues Verständnis von Gott, der meine berufliche Entscheidung“, Abtreibungen auf Verlangen durchzuführen, „selbst anstoßen, bestätigen und unterstützen würde.“ Diese Gottesvorstellung ist im Bereich des populären Pseudochristentums gang und gäbe geworden. Christian Smith prägte dafür den Ausdruck „moralistisch- therapeutischer Deismus“. Es ist die Doktrin, dass Gott will, dass ich glücklich bin, und dass deswegen alles, was mich glücklich macht, der Wille Gottes ist. Aber es genügt Parker nicht, Gott bedingungslos zustimmende Akzeptanz zuzuschreiben. Er will die Wahl selbst zu einer gottgegebenen Vollmacht erklären: „Man wird nicht heilig, wie Maria, nur weil man schwanger geworden ist . . . Es ist der Anteil deiner Person, der Gott gleich ist, der die Wahl trifft. Der sagt: Ich entscheide mich dafür. Oder: Ich entscheide mich dagegen. Das ist es, was heilig ist. Das ist der Teil von dir, der für mich Gott gleich ist.“ So wie Moody vor ihm, sieht Parker die Wahl an sich als etwas Heiliges an, heiliger als das Leben, das bei jeder Abtreibungsentscheidung auf der Waage liegt.
Nun ist Parker Arzt und kein Theologe, und seine Überlegungen sind unverbindlich. Eine rigorosere Version der Theologie der Wahlfreiheit wurde 2018 von Rebecca Todd Peters in ihrem Buch Trust Women: A Progressive Christian Argument for Reproductive Justice[6] dargelegt. Man muss hinzufügen, dass Peters keinesfalls vom radikalen Rand kommt; sie ist Professorin für Religionswissenschaften an der Elon University und ordinierte Pfarrerin der Presbyterianischen Kirche (USA) und vertritt die Presbyterianische Kirche im Ökumenischen Rat der Kirchen. Ihre Arbeit fügt sich nahtlos in das liberale protestantische Denken ein, welches immer mehr zum Mainstream wird.
Peters verortet Abtreibung in einem breiteren Kontext der „reproduktiven Gerechtigkeit“, einer Frauengesundheitsbewegung, die feministische, antirassistische, anti-heteronormative und antikoloniale Ideologien und Aktivismus umfasst. Die Idee der reproduktiven Gerechtigkeit geht mehr auf den Marxismus als auf das Christentum zurück; sie beruht auf einer neomarxistischen Weltanschauung, die die „Unterdrücker“ den „Unterdrückten“ gegenüberstellt, die „Unterdrückung“ in systemischen und strukturellen Beziehungen verortet, und für eine Systemtransformation, d. h. eine Revolution, eintritt. Peters theologisiert diese Weltanschauung, indem sie das „Heilige“ und das „Moralische“ mit einer Vision radikaler weiblicher Macht und Autonomie verbindet, die verwirklicht wird, wenn das Joch der patriarchalen Unterdrückung abgeworfen wird.
Die traditionelle christliche Sichtweise, dass Sexualität der Fortpflanzung dient, wird von Parker als patriarchale und frauenfeindliche Tradition christlichen Denkens verworfen, bei der es um nichts anderes ging, als den weiblichen Körper der Kontrolle zu unterwerfen. Nach Peters Ansicht besteht keine notwendige Verbindung zwischen Sexualität und „dem Wunsch oder auch nur der Bereitschaft, ein Baby zu bekommen“. Stattdessen, so versichert sie, ist der gottgegebene Zweck von Sexualität die „Vertiefung und Verstärkung gegenseitiger fürsorglicher Verbundenheit und Verpflichtung“. Weil Schwangerschaft nicht der Zweck einer sexuellen Beziehung ist, kann sie als Nebensache abgetan werden. Eine Frau hat keine absolute Verantwortung für das potentielle Leben, das sie in einer Schwangerschaft in sich trägt. Wenn sie mit einer Schwangerschaft konfrontiert ist, muss sie stattdessen eine moralische Entscheidung treffen, die von ihr verlangt, „herauszufinden, wozu Gott sie beruft“: Mutterschaft oder nicht? „Du solltest kein Kind bekommen, nur weil du schwanger bist. Du solltest ein Baby bekommen, weil du ein Kind haben willst, weil du bereit bist, eine Familie zu gründen.“ Für eine Frau, die nicht willens oder unfähig ist, die elterliche Verantwortung zu übernehmen, ist Abtreibung eine „verantwortliche moralische Entscheidung“. Das ist ein ziemlich cleverer Trick, die Dinge moralisch auf den Kopf zu stellen: Nach der Logik von Peters ist es eine verantwortliche moralische Entscheidung, die Verantwortung für das Baby abzulehnen, das aus sexueller Aktivität entstehen kann.
In der Theologie von Peters reduziert sich die moralische Verantwortung auf die Dinge, für die ich verantwortlich sein will. Es kann keine moralische Verpflichtung geben, die nicht frei gewählt ist. Nach Peters (sie benutzt das Wort „Ungeborenes“ statt „Baby“) müssen wir „würdigen, dass Frauen die moralische Weisheit besitzen, den Ruf Gottes unterscheiden zu können; wir müssen die moralische Verpflichtung gegenüber dem Ungeborenen als einen Bundesschluss betrachten, der ihrer Zustimmung bedarf“. Stimmt die Frau der Mutterschaft nicht aus freiem Entschluss zu, so hat sie gegenüber dem ungeborenen Kind keine Verpflichtung und darf es abtreiben. Abtreibung ist aus dieser Sicht weder in sich selbst gut noch in sich selbst schlecht, weil es keinen Maßstab gibt, um jenseits des individuellen Willens, der Zustimmung und der Wahl der Frau festzulegen, was gut ist.
Das Aufkommen und die zunehmende Akzeptanz dieser Abtreibungstheologie weist auf einen tiefgreifenden Wandel in der Abtreibungspolitik und -diskussion hin, die mit den aktuellen Debatten über das Wesen und die Notwendigkeit körperlicher Grenzen bei so umstrittenen Themen wie der Wahl des Geschlechts oder der Entscheidung über das Lebensende zusammenhängt. Von Moody über Parker bis zu Peters geht es nicht mehr darum, dass „Wahlfreiheit“ ein bedauerliches Zugeständnis an die Schwierigkeiten und praktischen Auswirkungen einer ungewollten Schwangerschaft ist. Sondern sie stellen eine Behauptung über die grundlegende Frage auf, wer wir als geschaffene Wesen sind. Die Theologisierung der Wahlfreiheit leugnet unsere körperliche Realität sowie unsere Einbettung in Beziehungen, die von Verletzlichkeit, Weitergabe des Lebens und Abhängigkeit geprägt sind. Und sie pervertiert die Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf, indem sie „ich will“ und „ich wähle“ in die Position des souveränen Gottes erhebt. Moody und seine Erben nennen ihre Theologie zwar „christlich“, aber sie haben das Christentum auf den Kopf gestellt.
Das Essay von Jia Tolentino im New Yorker über den „heiligen Willen“ in ihrer Entscheidung, ein Baby zu bekommen, verdeutlicht die Folgen dieser radikal relativierten Moral. Die Entscheidung, eine Schwangerschaft fortzusetzen oder abzubrechen, so Tolentino, „findet in einem so komplizierten Geflecht systemischer und individueller Umstände statt, dass nur die Person, die schwanger ist, hoffen kann, die Situation zu bewerten und eine moralische Entscheidung unter den zur Verfügung stehenden Optionen zu treffen“. Für sie sind diese Umstände größtenteils existenziell; sie erzählt von den Schrecken der Pandemie, der globalen Erwärmung, der Erschöpfung der Ressourcen und der drohenden Auslöschung als Ängste, die ihre eigene Schwangerschaft umgaben. „Mir war bewusst, dass mein Kind nicht nur in dieser zerfallenden Welt leben, sondern auch zu ihrem Zerfall beitragen würde“, gesteht sie. Von daher schien ihr, dass „die Entscheidung, ein neues Leben in die Welt zu setzen, das klare Risiko einer ethischen Fehlentscheidung in sich trug“. Irgendwie entkam Tolentinos Baby diesem beängstigenden Kalkül und kam lebend heraus. Dennoch ist Tolentino der Meinung, dass unter diesen schrecklichen Umständen eine Abtreibung sehr wohl das Richtige sein könnte, nicht nur für die „zerfallende Welt“, sondern auch für das Kind.
Bedenkt, wie Kaeley McEvoy in der Christa-Kapelle auf die gute Botschaft wartete, dass sie bald die Schwangerschaft, die sie nicht wollte, loswerden würde. Letzten Endes handelt es sich um einen religiösen Krieg – allerdings nicht den, für den die Konservativen ihn hielten. Sie dachten, sie kämpften für den religiösen Wert des Lebens gegen den säkularen Wert der Wahlfreiheit. Aber nein: Die Speerspitze des radikalen Abtreibungsabsolutismus ist eine neue Glaubenslehre. Die Wahlfreiheit ist zum religiösen Wert geworden, zum Fundament einer neuen Moral, ohne Ähnlichkeit zur abrahamitischen Tradition. Wir haben es mit einem getarnten Feind zu tun, der sich den Mantel der christlichen Liebe und Nächstenliebe umhängt, um den traditionellen Glauben von innen heraus zu zersetzen. In diesem auf den Kopf gestellten Glauben wird das Unmoralische als moralisch bezeichnet. Die Verantwortungslosigkeit wird zur Verantwortlichkeit verkehrt. Was das Lebens zerstört, wird lebensschützend genannt. Mord heißt Rettung. Die schwangere Mutter ist in ihrer Allwissenheit und Macht ihr eigener Gott. Ihr Wille ist heilig und absolut. Und ihre heilige Abtreibung rettet die Welt.
Ein Artikel von Samira Kawash. Übersetzung des englischsprachigen Artikels „Holy Abortion“, der zuerst am 01.12.2023 auf FirstThings erschien. Übersetzt von Ruth Metzger. Veröffentlichung der Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von FirstThings.
[1] Eine Interessengruppe von Geistlichen im Rahmen von Abtreibungsbegleitungen.
[2] Dt.: Eine komplizierte Wahl: Raum schaffen für Trauer und Heilung in der Pro-Choice-Bewegung
[3] Dt. Heilige Abtreibung?: Eine theologische Kritik der Religiösen Koalition für reproduktive Wahlfreiheit
[4] Dt. Gesetz zum Schutz der weiblichen Gesundheit.
[5] Dt. Lebenswerk: Ein moralisches Argument für Wahlfreiheit
[6] Dt. Vertraut den Frauen: Ein progressives christliches Argument für reproduktive Gerechtigkeit
Sehr guter Bericht über die Entwicklung der Debatte und ein perfides Gottesbild. Da stellen sich unweigerlich die Nackenhaare. Ich mag mir gar nicht ausmahlen wie schrecklich es wird einmal vor dem Schöpfer zu stehen und Ihm erklären zu wollen das man es besser wusste als Er… Da werden sie tatsächlich zu den Bergen schreien.