Edit vom 13.09.2022: Eine Leserin meines Blogs hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass der Artikel sich über weite Strecken als ein Pauschalurteil an allen Russlanddeutschen liest. Ich muss dieser Kritik recht geben, und habe einige Korrekturen am Artikel vorgenommen, die sich im Artikel kursiv gesetzt finden (zur Nachvollziehbarkeit)
Mit viel Pathos, voller Emotionen, mit den grellsten Adjektiven gemalt und der größten Dringlichkeit unterstrichen! So verlief auch dieser Muttertags-Gottesdienst vor vielen Jahren genauso wie die, die davor verliefen und die danach verlaufen sollten. Was gab es damals wichtigeres als das fünfte Gebot (Hinweis 1: protestantisch gezählt das fünfte, für die Katholiken Nr. vier; Hinweis 2: zumindest bleibt die Frage erlaubt, warum immer diese arg feministisch-geprägte Variante gefeiert wird)
Nun, damals noch jünger, machte die Rhetorik dieser Veranstaltung einigen Eindruck auf mich. So beschloss ich, “mein Leben völlig zu überdenken” und mehr in die Ehre meiner Eltern zu investieren. Es wurde dem Vater nach Kasachstan ein Brief geschickt (wie so oft nach solchen “Ich ändere mein Leben ab jetzt”-Entschlüssen) und feste vorgenommen der Mutter noch mehr Respekt entgegenzubringen.
Ich, damals 17 oder 18 Jahre alt, war aber auch bestürzt darüber, dass die Beziehung zu meiner Stiefgroßmutter (die einzige aus der Großelterngeneration überhaupt, die noch am Leben war, und eben eigentlich nicht leiblich verwandt), nun, wie soll man es ausdrücken, nicht existent war. Etwa eins bis zwei Mal im Jahr traf man sie bei einem Verwandtenbesuch und sprach den üblichen Smalltalk, immer diese besonders langweilige Variante davon.
Auf jeden Fall, mein Gewissen plagte mich: Sollte ich nicht auch die Beziehung zu meiner Stiefgroßmutter wiederherstellen? Vielleicht sollte ich sie gar mal besuchen? (etwa 30km Entfernung) Nun, nicht lange gefackelt, ich griff zum Telefon und rief sie an. Nach dem ersten üblichen Plausch kam ich auf meinen Vorschlag, dass ich sie gerne besuchen würde. Da wurde sie misstrauisch (wer würde es ihr verübeln?). Wer ich denn gerade sei, der sie gerade anriefe? Ob ich wirklich Sergej sei. Mir wurde schnell deutlich, dass sie mich für einen Telefontickbetrüger hält, der nun irgendwie versucht, ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen. So weit ich mich erinnere, gab ich gar meiner Mutter den Hörer, um sie vom Gegenteil zu überzeugen. Alle Methoden vergebens. Ich versicherte ihr Informationen zu meiner Identität, aber natürlich kannte sie selber kaum wenige, und alle klangen auch wahrscheinlich so, dass man sie auch hätte zufällig richtig treffen können. Nun, um jeden Preis wollte sie keinen Besuch.
Was hat diese etwas peinliche Story mit Lügen zu tun? Nun, schlicht die Tatsache, dass ich bis heute nicht weiß, ob meine Stiefgroßmutter diese Szene nur gespielt hat, oder wirklich dachte, dass ich ein Trickbetrüger sei. Ich persönlich habe, da die Dame damals gerade mal 60 Jahre alt und bis heute äußerst fit ist, immer noch den Verdacht, dass es einfach ein Trick ihrerseits war, sich mir vom Hals zu halten (obwohl sie genau wusste, dass ich ihr liebster Stiefenkel bin). Und ich vermute, dass sie das getan hat, da sie seltsam fand, warum ihr Stiefenkel sie plötzlich besuchen wollte. Vermutete Sie Geldnot? Das dürfte strategisch sinnvoll gewesen sein, da sie von ihren eigenen leiblichen Enkeln regelmäßig schamlos angepumpt wurde.
Dennoch: Was war jetzt Wahrheit, was Lüge? Wusste diese Dame es selber? Das ist das Traurige an Lügen, dass man in ihnen völlig verloren gehen kann. . Ich kenne Leute, bei denen eigentlich jeder Satz unwahr ist. Immer ist mindestens Taktik, Berechnung, Strategie dahinter, meist aber Halbwahrheit, Unwahrheit und Beschönigung. Ich habe erlebt, wie diese Menschen lebensunfähig werden, weil sie auch hinter allem, was Ihnen andere erzählen die gleichen Verstrickungen vermuten. Sie verlieren sich bis zur endgültigen Lebensunfähigkeiten in einem Netz von Lügen, bis sie nicht mehr zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden können.
Vor vielen Jahren besuchte ich meinen Vater, der damals mit einer anderen Frau zusammenlebte. Ein seltener Besuch, so dass sich die Hausfrau eifrig ans Werk setzte um das Beste des Hauses zu servieren: Speck und Borschtsch und knusprige Karauschen. Ein großer Teller wurde eingeschöpft, und von den etwa ein dutzend Fischen der größte auf meinen Teller gepackt. Ich bemühte mich, die Großzügigkeit der Gastgeberin nicht enttäuschen. Am nächsten Tag berichtete aber mein Vater meiner Mutter, dass seine Lebensgefährtin ihm einen großen Skandal darüber machte, dass ich ihr so viel aufgefuttert habe, obwohl doch das Budget eh kaum ausreichte (zum Hintergrund: das war in Kasachstan)
Versteht mich richtig: Mit jeder der Varianten könnte ich leben: Obwohl ich Borschtsch nicht mag, würde ich ihn dieser Dame zu Liebe aufessen. Ich würde sie verstehen, wenn sie mir sagen würde: Komm du kommst eh aus Deutschland, gib uns doch ein Zwanziger für die Fische. Und ich verstünde es auch gut, wenn sie gar kein Interesse hätte, mich zu empfangen. Aber in der Variante, die am Ende rauskam, ist mir bis heute völlig unklar, was eigentlich ihre Erwartung war. Ich weiß es nicht und würde vermuten, dass sie es selber nicht weiß. Das ist das zersetzende an Lügen, dass es gar nicht so einfach ist, sie aufzudecken. Denn wen ich um des Verständnisses willen, aus diesem Netz von Legenden versuchen würde, meine nächsten Schritte abzuleiten: Wie sollen die ausgehen. Letztlich würde doch etwas stören. Das heißt Lügen machen selbst dafür blind, was ich selber haben möchte. Letztlich haben diese Frauen niemanden mehr angelogen, als sich selbst. Und das ist furchtbar traurig.
Zwei verrückte Stories, die nur am Rande das widerspiegeln, was in Millionen Haushalten (und das sicher nicht nur in osteuropäisch oder russlanddeutsch geprägten) täglich abläuft: Da sagt man, “es geht mir gut” um zwei Sätze später zu sagen: “Du siehst doch, dass es mir nicht gut geht, warum fragst du?”. Wie sieht ein Gegenentwurf aus: Radikale Entscheidung zur Wahrheit. Sie ist häufig unangenehm, im ersten Moment sieht sie wie der teurere Preis aus, wird sich aber auf lange Sicht als ein wertvolles Invest erweisen: “Denn wir vermögen nichts wider die Wahrheit, sondern nur etwas für die Wahrheit. (2. Kor. 13,8)” Ein Vers, den ich nur so deuten kann: Nur mit der Wahrheit, werden wir lebensfähig.
Danke für das offene und mutige Statement. Es hilft mir, viele meiner Erlebnisse mit diesem Personenkreis besser zu verstehen.
Wie wahr und einzige Lösung: “Radikale Entscheidung zur Wahrheit. Sie ist häufig unangenehm, im ersten Moment sieht sie wie der teurere Preis aus, wird sich aber auf lange Sicht als ein wertvolles Invest erweisen.”
Aus dem Film “The Help”: Vor der Liebe kommt die Wahrheit!