Als ich vor kurzem über die Schweizer Grenze fuhr, musste ich daran denken, dass es die “biblischen Zöllner” einfach nicht mehr gibt. Zumindest nicht mehr hier in Westeuropa, in den GUS-Staaten tummeln sich noch zahlreich Zöllner von beeindruckend biblischen Qualitäten herum.
Aber nicht nur die Zöllner “vermisse” ich. Auch Menschen pharisäischer Qualität kann ich heute nicht mehr finden. Zumindest scheint kaum einer von der kaum zu ertragenden Schmähkritik in Matth. 23 betroffen zu sein. Heuchler scheinen Fehlanzeige zu sein. Vielleicht liegt es ja daran, dass kein Christ mehr zwei mal in der Woche fastet? Aber auch Menschen, die Zweifel so erfolgreich promoten wie die Sadduzäer, soll es heute wohl auch nicht mehr geben. Das soll nicht heißen, dass sich nicht überall genug Leute in der Oberschicht des Volkes Gottes (besser: unter dem Volk Gottes) rumtummeln, die ebenfalls sowohl Auferstehung wie Engelwelt bezweifeln. Aber irgendwie darf man diese beiden so offensichtlich identischen Zweifel-Gruppen nie und unter keinen Umständen jemals vergleichen. Irgendetwas wunderbares, nahezu magisches unterscheidet die heutige Ablehnung des Übernatürlichen von der vergangen. Was genau, konnte mir bisher keiner erklären.
Oder haben Sie schon mal jemals jemanden getroffen, der egal welch Anzahl an menschengemachten Regeln er um sich aufgebaut hat, in Erwägung zieht, dass der Galaterbrief ihm womöglich etwas zu sagen hat? Da sich heute keiner beschneiden lässt, muss alles in Ordnung sein. By the way: Wie war es dann bei Titus (Gal. 2.3)?
Auch auf der anderen Seite des Spektrums alles menschenleer: Keine ungeistlichen und gesetzlosen Korinther, zerfressen durch Neid und Streitsucht, zu finden! Die Liebe zur Welt kleidet sich heute viel lieber in zwei Varianten: Entweder in konservativer oder liberaler Spielart. Entweder als “biblischer Separatismus” oder als “gesellschaftliche Teilhabe”.
Selbst die ganzen Lahmen und Krüppel kann man kaum finden; offensichtlich wurde eine beachtliche Zahl derselben rechtzeitig abgetrieben, im anderen Fall in geeigneten Heimen abgeriegelt.
Benebelt durch den dunklen Rauch der Selbstbeweihräucherung, mitten in der Anbetung unserer eigenen Gerechtigkeit, haben wir effizient zahlreiche Bereiche der Bibel “ausgeräuchert”. Sie schweigen, da sie nur noch rein fiktive Personen in rein fiktiven Situationen meinen. Viel zu weit (zeitlich) von uns entfernt, viel zu andersartig in ihrer Kultur. Warum z.B. sollten wir als Christen noch nach sozialer Diakonie trachten, wenn es einen gut funktionierenden Sozialstaat gibt? (Die durch die Situation entstanden Ämter werden natürlich eisern bewacht, einschließlich Hierarchie und Beffchen.)
Was sollen wir z.B. bloß mit der Kapitel an Kapitel gereihten Kritik des Amos am Umgang mit Armen anfangen? (mindestens Kap. 3-7). Ich meine er geht so weit, die verwöhnten Frauen Israels als fette Kühe zu bezeichnen! (Am. 4,1). Wie furchtbar unpassend! Welch unangenehme Sprachwahl! So sollte sich doch ein Prophet Gottes nicht ausdrücken! Und überhaupt, soziale Gerechtigkeit – ne, ne,ne! – Warum ich das Beispiel wähle? Weil wir mit der Familie gemeinsam den Propheten Amos angeschaut haben, und mir wieder mein kaltes liebloses Herz bewusst wurde. Ich verstehe den Inhalt von Amos, aber ich habe gemerkt, wie er mir einfach nichts sagt und nichts zu sagen hat. Kapitel nach Kapitel lese ich über fehlende Gerechtigkeit im Umgang mit dem Nächsten, aber ich lese es und streichele mir doch gleichzeitig selbstgefällig meine Seele, als wäre alles in Ordnung!
Ach Herr: “Bekehre du mich, so will ich mich bekehren; denn du, HERR, bist mein Gott!” (Jes. 31,18)