Die Sowjetunion, mein Geburtsland, war ein furchtbarer Unrechtsstaat. Der exzessiven Bagatellisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in diesem Land habe ich meine schlimmsten Albträume zu verdanken:
Auseinandergerissen und Abgespült
Ich habe bis zu meinem achten Lebensjahr in Kasachstan gelebt. Eigentlich habe ich zumeist positive, kindliche Erinnerung an dieses Land. Ein Kapitel der Erinnerungen ist aber düster: Es war üblich, dass man am Tisch spielen und mithören durfte, wenn Besuch da war. Waren es Frauen, gab es kaum eine, die nicht von einem (oder mehreren) “Abbort(s)” berichtet hat, es dauerte einige Zeit, bis ich in meinem kindlichen Verständnis zu begreifen anfing, dass es wirklich darum ging, ungewollte Kinder auf unterschiedliche Weise zu töten, in dem man sie z.B. aussaugte. Seltsam war dabei, dass kaum eine Frau diesem Verbrechen aus dem Weg gegangen ist. Dabei war meine Familie eher Vertreter einer sozialen Oberschicht (wenn es denn so etwas in der Sowjetunion gegeben hat).
Auf jeden Fall, habe ich diesen Berichten einige meiner schlimmsten Albträume zu verdanken. Ich konnte nie begreifen, warum ich irgendwie besser sein sollte, als irgend eines dieser vielen Kinder, die noch ungeboren auf der Müllkippe landeten. Ich träumte (und träume), dass ich selig im Mutterleib schwimme, während plötzlich ein schrecklicher Druck um mich zunimmt, meine Glieder auseinander reißt, erst einen Arm, dann ein Bein, irgendwann auch den Kopf. Alles zirkuliert in einem Todesstrudel. Die Organe werden nach dem “Abbort” sorgfältig zusammengelegt, da ja nichts “zurückbleiben” soll, und anschließend in der Toilette runtergespült. Einfach weg: kein Sergej (der bis dahin ja noch völlig namenlos ist) mehr.
Problem der Vergewaltigten und Minderjährigen?
Dieser Albtraum ist leider kein Albtraum und oft nur allzu wahr. Wie ein Nebel der Hoffnungslosigkeit bedeckt das Wissen um diesen “stummen” Mord jede meiner Handlungen. Man möge mich bitte richtig verstehen. Ehrlich gesagt habe ich mehr als nur ein gewisses Verständnis, dass nach einer schmählichen Entehrung eine Frau ihre Leibesfrucht nicht akzeptieren möchte. Ich habe mehr als Mitleid mit Prostituierten, die den neuestem Trend ihrer Freier nachgeben müssen, ungeschützten Verkehr mit unzähligen Partnern zu haben. Wem es wohl genützt hat, als die Pre-Aids-Pille auf Kassenrechnung gesetzt wurde?
Das Problem sind nicht all diese zerstörten Personen und es ist eine Schande, dass z.B. in unserem Land derart wenig gegen hunderttausendfache Zwangsprostitution unternommen wird. Von wegen Frauenrecht… Das Problem war, dass keine der Besucherinnen meiner Familie, die von diesem Mord berichtete, diesen minderjährig oder nach einer Vergewaltigung oder gar nur nach einer sozialen Misslage durchführte. Die Sowjetunion, oder eher die kommunistische Ideologie hat Menschen erfolgreich dazu gebracht, Abtreibungen als eine Variation der Familienplanung zu betrachten. In der (Post-)Sowjetunion natürlich auch in der fötalen Phase unproblematisch umzusetzen.
Die Lüge der Folgenlosigkeit
Dieser Mord ist so grausam, dass man gar nicht weiß, wie man seinem Horror entkommt. Der Punkt ist nämlich der, dass die Frauen nie selber daran glauben konnten, dass ihre Tat harmlos war. Dafür sprechen zwei Indizien: Erstens, durfte man (und darf man) niemals eine Frau auf eine Abtreibung ansprechen, ohne einen Skandal zu riskieren. Warum aber sollte es ein solches Problem sein, wenn es doch das natürlichste von der Welt sein soll? Zweitens, berichteten Frauen auch Jahrzehnte später noch über ihre Seelenqualen. Im besten Fall windeten sie sich in Selbstrechtfertigungen.
Der endgültige Tod der Hoffnung
Diese persönliche Beobachtung, deckt sich auch mit dem statistischen Bundesamt, dass von 100.000 Abtreibungen im Jahre 2019 berichtet. Wie viele der Frauen waren davon minderjährig? Drei Prozent. Gleichzeitig wurden knapp 800.000 Kinder geboren. Das bedeutet auch, dass die meisten der abgetriebenen Kinder nicht behindert sind (was sowieso lächerlich und diskriminierend ist, Abtreibungen an Behinderten für weniger tragisch zu halten).
Jedes neunte Kind überlebt also nicht. Das ist Völkermord. Halt, will da einer rufen! Es gibt in der deutschen Geschichte, nur das eine wirklich Böse, nämlich den Holocaust. Auch das ist ein Punkt, der mich beim Nachdenken über Abtreibungen traurig macht. So viele nutzen den Verweis auf das furchtbare, scheußliche und hoffentlich nie wieder kehrende dritte Reich und seine Verbrechen in besonderer Weise an den Juden, um jedes andere Verbrechen zu relativieren. Das ist furchtbar. Wahrlich, nicht nur in Stalingrad muss die Frage nach dem Menschen verneint werden!
Das Problem ist also nicht der Mord, sondern die Verharmlosung und in weiten Kreisen die Zelebration desselben. Schau dir dieses Video der Jusos von ihrem Bundeskongress 2018 an. Das ist eine Partei der Mitte, die von sich behauptet, sich für die Schwächsten der Gesellschaft einzusetzen. Im Vergleich zur AfD soll von dieser Partei, und erst Recht ihrer Jugendpartei keine Hetze und kein Hass kommen. Nein, sondern Verständnis und Toleranz. Für meinen Albtraum bedeutet dies: Während der Arzt den Staubsauger anschaltet, um meiner Organe auseinander zu reißen, sitzt eine junge Sozialistin neben meiner Mutter und streichelt ihr den Bauch, in dem sie Ihr zuredet, dass ihre Entscheidung, eine gute, feminine und freie Notwendigkeit sei.
Wieso tut keiner was?
Das Wissen um diesen jährlichen hundertausendfachen Mord raubt mir jede Hoffnung. Am liebsten würde ich es vergessen und nicht wahrhaben wollen. Aber jeder Artikel, der sich irgendwie kritisch mit dem Christentum auseinandersetzt, (also jeder, der sich überhaupt mit dem Christentum beschäftigt), schiebt überall rein, dass doch die ganzen Evangelikalen derartige Hinterwäldler sind, dass sie immer noch gegen Abtreibungen demonstrieren? Glaubst du nicht? Dann lese dir mal dieses Interview mit T. Schirrmacher durch. Völlig am sonstigen Gespräch vorbei will der Interviewer von Schirrmacher wissen, ob seine Annäherung an den Papst nun dazu führen wird, dass “wir jetzt jede Woche mit einer katholisch-evangelikalen Demo gegen Abtreibung rechnen” dürfen. Warum sollte ich so etwas noch lesen wollen?
Ich arbeite als Ingenieur daran, mit neuen Geräten das Leben für meine Mitmenschen zu verbessern. Aber warum sollte ich das noch tun? Warum sollte ich Mördern helfen? Eigentlich möchte ich nicht in einer Welt leben, die Mord bagatellisiert. Ich denke, da gehöre ich nicht hin. Hier möchte ich nicht sein. Es ist dieser Nebel der Hoffnungslosigkeit, der mir den Mut raubt, morgens überhaupt aus dem Bett zu steigen, um für meinen Nächsten da zu sein. Nun, man kann einwenden, dass es ja nur knapp 10 Prozent der Frauen (zugegebenermaßen etwas abenteuerlich interpoliert) betrifft. Aber genau das stimmt nicht. Es sind die Männer ebenso schuld, die immer und immer wieder nur auf der Jagd nach ihrer Lustbefriedigung sind, immer auf der Suche nach der nächsten “Nacht der Glückseligkeit”. Es sind die sozialen Strukturen, die den Bauch streichelten. Es sind die Eltern, die eher von der tollen Karriere redeten, die durch ein Kind gefährdet ist. Es sind die Kirchen, die lieber Missbrauchsskandale vertuschten, und dadurch jede Glaubwürdigkeit verloren. Es sind die konservativen Evangelikalen, die sich lieber darüber die Köpfe einschlagen, ob nun Textus Receptus oder Nestle-Aland der “gottgegebene Bibeltext” ist, als sich um den Nächsten zu kümmern. Zu aller letzt bin auch ich schuld. Ja, letzten Endes bin ich mitverschworen. So oft haben viele bei Völkermord einfach nur zugeschaut. Genau das tue ich heute auch. Ich habe niemanden geholfen, ich bin nicht beim Marsch fürs Leben mitgelaufen (Ich habe lieber, so wie es einem konservativen Evangelikalen zu Gesicht steht, darüber nachgedacht und stundenlang diskutiert, ob man als Christ überhaupt demonstrieren darf). Ich habe keine betroffenen Personen getröstet oder sie geduldig unterstützt. Ich habe keine Petitionen geschrieben, ich habe mich nicht vor dem Bundestag mit Benzin übergossen angekettet (was wirklich eine völlig angebrachte Reaktion wäre). Ich habe versagt. Ich stehe, umgeben von Albträumen und schaue tatenlos einem täglichen Mord zu. Ich habe versagt.