Verbietet Australien Gebete?

Carl Trueman 

Konversionstherapien – also die Verwendung geistlicher oder psychologischer Eingriffe, um die sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität eines Menschen zu verändern – werden in den USA zunehmend kontrovers diskutiert. In etwa zwanzig der amerikanischen Staaten sind sie bei Minderjährigen verboten. Der District of Columbia verbietet solche Therapien vollständig, unabhängig vom Alter. Solche Gesetze könnten als staatliche Unterstützung für die LGBTQ+ -Community verstanden werden, doch man muss sie nicht ausschließlich zynisch bewerten. Sie können durchaus den Wunsch widerspiegeln, Schutzbedürftige davor zu bewahren, für Behandlungen zu bezahlen, die der Gesetzgeber für Schwindel hält.

Der australische Staat Victoria jedoch hat kürzlich ein Gesetz erlassen, dass den Konflikt zwischen religiöser Freiheit, individueller Wahl und Identitätspolitik deutlich verschärfen wird. Dieses kann dabei ein Model für die Gesetzgebung überall sonst in der demokratischen Welt werden.

Der kürzlich veröffentlichte Gesetzesbeschluss ist das Change or Suppression (Conversion) Practices Prohibition Bill 2020[1]. Seine grundlegende Absit ist es, sicherzustellen. Wie sollen man darauf antworten? Die Ziele sind schließlich ehrenhaft genug (Wer möchte nicht an einem Ort leben, wo er wertgeschätzt wird?). Die Formulierung selbst zehrt aber von der nebulösen schwabbeligen Ausdrucksweise unseres gegenwärtigen therapeutischen Zeitalters. Sich wertgeschätzt zu fühlen und authentisch zu leben sind hilfreiche, leere Phrasen, die wunderbar bestätigend klingen, und die doch zu jedem Content passen, der aktuell im Trend ist. Ich nehme doch an (oder hoffe es zumindest), dass die, deren „sexuelle Orientierung“ sie dazu verleitet Minderjährige zu missbrauchen, sich trotz dieser neuen Gesetzgebung in Victoria nicht willkommen und geschätzt fühlen werden.

Das Gesetz definiert eine „Veränderungs- oder Unterdrückungspraxis“ folgendermaßen:

„Eine Praxis oder ein Verhalten, die/das sich mit oder ohne Zustimmung der Person auf der Grundlage der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität der Person an diese richtet und darauf abzielt, die sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität der Person zu ändern oder zu unterdrücken, oder die Person dazu zu veranlassen, ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität zu ändern oder zu unterdrücken.“

Beachtet dabei, dass die Zustimmung der Person für den rechtlichen Punkt unerheblich ist: Die Änderungs- oder Unterdrückungs- ist unabhängig von der Einstellung der betroffenen Person rechtswidrig.

Doch der aus religiöser Perspektive wichtige Teil der Gesetzgebung ist seine Liste von „Veränderungs- oder Unterdrückungspraktiken“ Diese schließt „die Ausübung einer religiösen Praxis, wie unter anderem aber nicht ausschließlich, eine Gebetsbasierende Praxis, eine Befreiungspraxis oder einen Exorzismus“ mit ein.

Kurz gesagt, wenn jemand einen Pastor, einen Priester oder einen christlichen Freund bittet, für ihn zu beten, damit sein sexuelles Verlangen oder geschlechtliche Dysphorie verändert werden kann, dieser Pastor, Priester oder Freund Gefahr läuft, ein strafbares Vergehen zu begehen. Das dürfte auch für Eltern gelten, die für ihre Kinder beten – oder womöglich sogar für Eltern, die ihren Kindern beibringen, dass ungehemmte Äußerungen sexuellen Begehrens (zumindest innerhalb der Wertekanons des zeitgenössischen bürgerlichen Geschmacks) unangemessen sind.

Diese Bestimmung basiert offensichtlich nicht auf einem kohärenten metaphysischen Einwand gegen Gebetspraxis. Wenn die Gesetzgeber glauben, dass Gott existiert, werden sie wohl auch glauben, dass er weise genug ist, solche Geete zu ignorieren, wenn sie tatsächlich schädlich sind. Und wenn sie nicht glauben, dass er existiert, dann sollte man vernünftigerweise annehmen, dass solche Gebete als eine ziemlich sinnlose, sogar unsinnige Übung anzusehen sind.

Die Haltung ist also nicht metaphysisch begründet und offenbart doch einen Aspekt der neuen Identitätspolitik: Verräter des Anliegens können nicht toleriert werden. Ob es nun John McWhorter ist, der die wiedererweckte Inbrunst der neuen Religion des Antirassismus ausruft, die gerade die Vereinigten Staaten ergreift, oder eine anonyme Person in Australien, die meint dass ihre Geschlechtsdysphorie ein Problem ihres Geistes und nicht ihres Körpers ist. IN beidne Fällen ist der Verräter im schlimmsten Fall eine gefährliche Person, die im besten Fall vor sich selbst geschützt werden muss.

Die Gesetzgebung zeigt auch eines der seltsamsten Ergebnisse der modernen Betonung der radikalen Freiheit des Individuums. In einer solchen Welt müsste theoretisch jedermann gestattet sein, seinen persönlichen Identitätsnarrativ zu besitzen. Doch weil einige Identitätsnarrative unvermeidlich zu anderen in Opposition stehen, müssen somit einige Identitäten legitimieret werden und andere als kulturelles Krebsgeschwür behandelt werden. Das aber bedeutet ironischerweise, dass das Individuum aufhört souverän zu sein und die Regierung einzugreifen hat. Die Lobby Gruppe des Tages entscheidet dann, wer gerade in oder out ist, mit dem Ergebnis, dass z.B. die schwule oder Trans Person, die nun hetero oder „cis“ (um den großspurigen Jargon zu verwenden), nicht mehr toleriert werden kann. Sein Narrativ stellt immerhin die Narrative anderer in Frage. Ja eigentlich ist schon seine bloße Existenz ein Angriff. Seinem Verlangen jeglichen Grad an Legitimität zu gewähren ist eine Herausforderung des normativen Status des Verlangens der anderen.

Deswegen muss das Gebet für solche Häretiker verboten werden, selbst wenn sie darum bitten. Das geschieht weniger, weil es die Menschen verletzt, für die es dargebracht wird, sondern weil es die Tatsache bezeugt, dass nicht alle Menschen, nicht einmal alle schwulen und trans Menschen mit den gegenwärtigen Konfektionen der sexuellen Identitätspolitik übereinstimmen.

Womöglich ist das eine Ermutigung. Vielleicht wird auf lange Sicht den westlichen Gesellschaften, die im Christentum tief verwurzelte Tatsache aufgehen, dass die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte. Aber es ist auch ein unheilvolles Zeichen, wenn eine so grundlegende religiöse Praxis wie das Gebet – das von den Irreligiösen so oft als sinnloser Humbug verunglimpft wird – in einem demokratischen Land zum Ziel einer feindlichen Gesetzgebung wird. Wir sind vielleicht noch nicht an dem Punkt, an dem das Denken ein Verbrechen ist, aber wir scheinen an dem Punkt zu sein, an dem der Ausdruck bestimmter Gedanken, selbst im Gebet, als kriminelles Verhalten angesehen werden könnte. Auf die Gefahr hin, Menschen zu Straftaten und Vergehen zu ermutigen, möchte ich jeden auffordern, dafür zu beten, dass andere Länder nicht dem Beispiel Victorias folgen.  Denn wenn sie es tun, könnte es in ein paar Jahren illegal sein, für fast alles zu beten, was unsere Herren und Meister missbilligen.

[1] In etwa: „Gesetz zum Verbot von Veränderungs- oder Unterdrückungspraktiken“


Ein Artikel von Carl R. Trueman. Erschienen am 08.02.2021 auf FirstThings.com Übersetzung und Veröffentlichung mit freundlcher Genehmigung von FirstThings.

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