C H Spurgeon, Predigten

Ein Evangelium, für das es sich zu sterben lohnt (Predigt von C.H. Spurgeon)

– Ein Freund hat mich auf diese Predigt aufmerksam gemacht, die, so weit mir bekannt ist, noch nie ins Deutsche übersetzt wurde. In dieser Predigt geht Spurgeon dem nach, was der Inhalt eines Evangeliums der Gnade ist. Dabei geht er auf die Bedeutung von Erwählung, Heilsgewissheit und Glaube ein, und wie diese zusammenhängen. Zum Schluß beschreibt Spurgeon die Auswirkungen einer solchen Botschaft auf das Leben eines Glaubenden. Sehr lesenswert. Ein Dank geht an die Übersetzerin Ruth Metzger. – 


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Eine Predigt von C.H. Spurgeon, gehalten am 12.08.1883 im Metropolitan Tabernacle.[1]

„…um das Evangelium der Gnade Gottes zu bezeugen.“ (Apostelgeschichte 20,24)

Wenn es um sein großes Ziel ging, das Evangelium zu verkündigen, achtete Paulus sein Leben nicht als wertvoll für sich. Dennoch können wir sicher sein, dass Paulus das Leben für sehr wertvoll hielt. Er hatte die gleiche Liebe zum Leben wie andere Menschen auch, und außerdem wusste er, wie wichtig sein Leben für die Gemeinden und die Sache Christi im Allgemeinen war. An einer anderen Stelle sagte er: „Es ist nötiger, im Fleisch zu bleiben um euretwillen.“ Er war nicht lebensmüde oder leichtfertig, dass er das Leben hätte wegwerfen wollen. Wie hoch er das Leben schätzte, zeigt sich in dem großen Wert, den er der Zeit beimaß, die ja der Stoff ist, aus dem das Leben gemacht ist. Jeden Tag und jede Stunde suchte er recht zu nutzen, um die Zeit auszukaufen, „denn die Tage sind böse“. Und doch sagte er den Ältesten in Ephesus in aller Nüchternheit, dass sein Leben ihm nicht teuer war, wenn es darum ging, das Evangelium der Gnade Gottes zu bezeugen. Der vorliegende Vers sagt, dass der Apostel sein Leben als einen Wettlauf ansah, den es zu laufen galt. Nun ist es so: Je schneller ein Rennen gelaufen wird, desto besser; man wünscht sich nicht, dass es sich lange hinzieht. Der Läufer hat nur einen Gedanken: Wie er am schnellsten das Ziel erreicht. Der Boden unter ihm ist ihm gleichgültig, und die Bahn kümmert ihn nur insofern, als er sie laufen muss, um zum gewünschten Ziel zu kommen. Und so sieht Paulus sein Leben: Alle Kräfte seines Geistes waren dem einen Ziel geweiht, das er zu erreichen suchte – nämlich, das Evangelium der Gnade Gottes überall zu bezeugen. Sein Leben auf dieser Erde war für ihn nur insofern von Wert, als es ein Mittel zu diesem Zweck war. Auch sah er das Evangelium und seinen Dienst daran als ein heiliges Gut an, das der Herr selbst ihm anvertraut hatte. Er sieht sich selbst als “mit dem Evangelium betraut” und er war entschlossen, treu zu sein, auch wenn es ihn das Leben kosten sollte. Er sagt, dass er den Dienst erfüllen wollte, den er von dem Herrn Jesus Christus empfangen hatte. Vor seinem inneren Auge sah er, wie der Heiland die überaus kostbare Schatulle mit dem himmlischen Juwel der Gnade Gottes in seine durchbohrten Hände nahm und zu ihm sagte: “Ich habe dich durch mein Blut erlöst und dich bei meinem Namen gerufen, und nun lege ich diese kostbare Sache in deine Hand, dass du sie hütest und bis aufs Blut bewahrst. Ich beauftrage dich, an meiner Statt und in meinem Namen überall hinzugehen und jedem Volk unter dem Himmel das Evangelium der Gnade Gottes bekanntzumachen.“ In gewisser Weise trifft das auf alle Gläubigen zu. Keiner von uns ist zum Apostelamt berufen, und nicht jeder von uns mag zur öffentlichen Verkündigung des Wortes Gottes berufen sein. Aber wir sind alle aufgefordert, auf dieser Erde tapfer für die Wahrheit einzustehen und den einmal den Heiligen überlieferten Glauben ernstlich zu verteidigen. Oh, mögen wir das im Geist des Apostels der Heiden tun! Als Gläubige sind wir alle zu irgendeiner Form des Dienstes berufen; und das sollte unser Leben zu einem Wettlauf machen und uns veranlassen, uns als Hüter des Evangeliums zu betrachten – so wie einer, der die Farben eines Regiments trägt, sich verpflichtet fühlt, alles für dessen Bestand zu opfern.

Paulus war ein wahrer Held, ein noch edlerer Held als jene tapferen Griechen, deren Geschichten noch immer das Blut in Wallung und die Seele zum Lodern bringen. Deren Heldentum nährte sich zum großen Teil von öffentlichem Ansehen und vom Beifall ihrer Mitbürger oder von der animalischen Erregung auf dem Schlachtfeld. Das Heldentum des Paulus dagegen war, was die menschliche Seite betraf, in sich selbst begründet, zielgerichtet und zeigte sich ohne Unterschied sowohl in der Einsamkeit eines Verlieses als auch in der Versammlung der Getreuen. Als er Abschied nahm von seinen weinenden Freunden und auf Bedrängnisse unbekannten Ausmaßes zuging, war er völlig unbewegt von Furcht und ging auf seinem Weg ohne Bedenken voran. Sein Abschied von den Ältesten erinnert mich unwiderstehlich an den Bericht des alten Geschichtsschreibers über Epaminondas, den Feldherrn von Theben. Als dieser durch einen spartanischen Speer tödlich verwundet wurde, dessen eiserne Spitze in seinem Körper steckenblieb, bat er seine Freunde, sie dort zu lassen, „denn“, so sagte er, „ich habe lange genug gelebt, wenn ich unbesiegt sterbe.“ Und als sie ihm sagten, dass die Schlacht gewonnen sei und seine Kameraden gesiegt hätten, befahl er ihnen, die Spitze des Speers herauszuziehen, damit sein Leben ein Ende habe. Einer bemerkte, er sei zwar gefallen, habe aber seinen Schild nicht verloren und sei siegreich gewesen; darauf antwortete er mit seinem letzten Atemzug: „Indem er so stirbt, ist dein Epaminondas unsterblich.“ Und so hat auch Paulus lange genug gelebt, wenn das Evangelium siegreich vorangeht, und sollte er auch sein Leben verlieren, so stirbt er doch nicht, wenn nur sein Dienst erfüllt ist. Ich will dir seine Worte lesen, und dann sollst du urteilen, ob sie nicht auch diesen Klang des Heldentums haben: „Und siehe, jetzt reise ich gebunden im Geist nach Jerusalem, ohne zu wissen, was mir dort begegnen wird, außer dass der Heilige Geist von Stadt zu Stadt Zeugnis gibt und sagt, dass Fesseln und Bedrängnisse auf mich warten. Aber auf das alles nehme ich keine Rücksicht; mein Leben ist mir auch selbst nicht teuer, wenn es gilt, meinen Lauf mit Freuden zu vollenden und den Dienst, den ich von dem Herrn Jesus empfangen habe, nämlich das Evangelium der Gnade Gottes zu bezeugen.“

Wir wollen heute Morgen als erstes die Frage untersuchen: Was ist dieses Evangelium, das Paulus für so wertvoll hielt, dass es sich dafür zu sterben lohnt, dieses „Evangelium der Gnade Gottes“? Wenn wir diese Untersuchung abgeschlossen haben, werden wir bereit sein für die nächste Frage: Wenn wir nicht dafür sterben können, wie können wir dafür leben? Und im dritten Punkt werde ich euch diese Hingabe ans Herz legen, indem ich die Frage beantworte: Warum sollten wir das tun? Möge der Heilige Geist in uns die heilige Hingabe und Selbstaufopferung des Paulus bewirken!

  1. Als erstes soll uns also heute Morgen die Frage beschäftigen: Was war dieses Evangelium, für das Paulus bereit war zu sterben? Nicht alles, was man „Evangelium“ nennt, löst eine solche Begeisterung aus oder verdient sie. Denn, meine Brüder, heutzutage haben wir Arten von „Evangelien“, für die ich nicht sterben möchte, ja, für die ich niemandem von euch empfehlen würde zu leben, denn sie werden in ein paar Jahren nichts mehr wert sein. Es lohnt sich nie, für eine Lehre zu sterben, die aussterben wird. Ich bin lange genug auf der Welt, um ein halbes Dutzend neuer Evangelien aufkommen, blühen und vergehen gesehen zu haben. Schon vor langer Zeit hat man mir gesagt, dass meine alte calvinistische Lehre der Zeit weit hinterherhinke und nicht mehr aktuell sei. Als nächstes hörte ich dann, dass die evangelische Lehre überhaupt der Vergangenheit angehöre und durch fortschrittliches Denken ersetzt werden müsse. Ich habe mal von dieser Korrektur des alten Glaubens gehört und mal von jener, und noch immer sind die philosophischen Theologen damit beschäftigt, ihre Theologie zu korrigieren. Sie schreiten von Fortschritt zu Fortschritt, und der Himmel weiß – und vielleicht auch die Hölle – wohin sie als nächstes fortschreiten werden, aber ich werde sicher nicht mit von der Partie sein. Für keines dieser neuen Gedankengebäude würde ich sterben.

Gerne würde ich von diesen weitläufigen Kirchengelehrten erfahren, ob sie in der Bibel überhaupt irgendeine positive Lehre finden – ob sie irgendeine Lehre auch nur für einen Moment für wert erachten, dafür zu sterben, und ob die Märtyrer nicht große Narren waren, für Wahrheiten zu sterben, die ihnen damals so kostbar erschienen, die aber der Fortschritt des Denkens inzwischen als nutzlos erwiesen hat. Jene Männer und Frauen, die in Smithfield für Christus auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden – waren sie nicht alle Narren, für ein Ideengebäude zu sterben, das das „moderne Denken“ längst zum Einsturz gebracht hat? Mir scheint wirklich, für unsere modernen Theologen existieren keine feststehenden Wahrheiten mehr, oder, sollte es so etwas doch geben, sind sie sich nicht sicher, dass sie dort schon hingelangt sind. Sie haben gegraben und gegraben und gegraben – schau dir die tiefen schwarzen Gruben des Unglaubens an, die sie ausgehoben haben – und doch sind sie noch nicht auf dem Grund angekommen. Warte noch ein wenig – vielleicht kommt ja der Tag, wo sie auf etwas Verlässliches stoßen; aber bis jetzt haben sie sich nur durch Sand gebohrt.

Und doch hat es in dieser Welt einmal ein Evangelium gegeben, das aus Tatsachen bestand, die Christen niemals in Zweifel zogen. Es gab einmal in der Kirche ein Evangelium, das die Gläubigen fest an ihr Herz drückten, als sei es lebensnotwendig für ihre Seelen. Es gab einmal ein Evangelium in der Welt, das Begeisterung auslöste und zum Opfer aufrief. Zehntausende haben sich unter Gefahr für Leib und Leben versammelt, um dieses Evangelium zu hören. Männer haben es im Angesicht von Tyrannen verkündigt und den Verlust allen Besitzes erlitten, sind dafür ins Gefängnis gegangen und gestorben und haben dabei Psalmen gesungen. Gibt es dieses Evangelium nicht mehr? Sind wir jetzt in Wolkenkuckucksheim angelangt, wo die Seelen Hungers sterben, weil sie sich von Vermutungen und Annahmen ernähren müssen und keine Kraft mehr finden für Zuversicht oder Eifer? Sollen die Jünger Jesu jetzt mit dem Schaum von „Gedanken“ und dem Wind der Fantasie genährt werden, der die Menschen mit Hochmut berauscht? Wollen wir nicht lieber zurückkehren zum nahrhaften Fleisch der unfehlbaren Offenbarung und zum Heiligen Geist rufen, damit er uns mit seinem eigenen inspirierten Wort nährt?

Was ist dieses Evangelium, das Paulus kostbarer war als sein Leben? Er nannte es „das Evangelium der Gnade Gottes“. Was den Apostel am Evangelium am stärksten beeindruckte, war, dass es eine Botschaft der Gnade – und allein der Gnade – war. In der Melodie der guten Botschaft gab es eine Note, die alles übertönte und das Ohr des Apostels entzückte: Diese Note war Gnade, die Gnade Gottes. In seinen Augen gab diese Note der ganzen Botschaft das Gepräge: Das Evangelium war „das Evangelium der Gnade Gottes“. In unseren Tagen Ist das Wort „Gnade“ nicht oft zu hören. Wir hören von moralischen Verpflichtungen, von wissenschaftlichen Anpassungen und vom Fortschritt der Menschheit – aber wer spricht von der „Gnade Gottes“, außer ein paar ewig Gestrigen, die bald ausgestorben sein werden? Ich stehe hier heute Morgen als eine dieser antiquierten Gestalten und möchte dieses Wort „GNADE“ auf eine Weise buchstabieren, dass die sich freuen, die seinen herrlichen Klang kennen, und dass es die ins Herz trifft, die es verachten. Gnade ist das Wesen des Evangeliums. Gnade ist die einzige Hoffnung für diese gefallene Welt! Gnade ist der einzige Trost der Heiligen, die der Herrlichkeit entgegensehen! Vielleicht hatte Paulus einen noch klareren Blick für die Gnade als Petrus oder Jakobus oder Johannes und bekam daher so viel mehr Raum im Neuen Testament. In einigen anderen Themen wird Paulus von den anderen apostolischen Schreibern übertroffen, aber was die Tiefe und Klarheit der Lehre von der Gnade angeht, so steht er an erster Stelle. Wir brauchen Paulus heute wieder, oder zumindest die paulinische Evangelisation und Kompromisslosigkeit. Er würde mit den neuen Versionen von Evangelium kurzen Prozess machen und von denen, die ihnen folgen, sagen: „Mich wundert, dass ihr euch so schnell abwenden lasst von dem, der euch durch die Gnade des Christus berufen hat, zu einem anderen Evangelium, während es doch kein anderes gibt; nur sind etliche da, die euch verwirren und das Evangelium von Christus verdrehen wollen.”

Lasst mich versuchen, kurz zu erklären, inwiefern das Evangelium die gute Botschaft von der Gnade ist.

Das Evangelium gibt bekannt, dass Gott bereit ist, dem sündigen Menschen auf Grundlage freier Gnade und reiner Barmherzigkeit zu begegnen. Zu sagen, dass Gott gerecht ist, wäre keine gute Neuigkeit. Denn zuerst einmal ist das nicht neu – dass Gott gerecht ist, wissen wir schon, das lehrt uns unser natürliches Gewissen. Es ist absolut nichts Neues, dass Gott Sünde strafen und Gerechtigkeit belohnen wird; und wäre es eine Neuigkeit, so wäre es doch keine gute, weil wir alle gesündigt haben, und die Gerechtigkeit uns zunichtemachen müsste. Aber es ist eine Neuigkeit, und eine von der besten Sorte, dass der Richter aller bereit ist, Übertretungen zu vergeben und den Gottlosen zu rechtfertigen. Es ist eine gute Nachricht für Sünder, dass der Herr die Sünde auslöscht und den Sünder in Gerechtigkeit kleidet und ihm seine Gunst zuteilwerden lässt, und dass er das nicht aufgrund irgendwelcher Werke tut, die der Sünder getan hat oder tun wird, sondern aufgrund seiner souveränen Gnade. Obwohl wir alle ausnahmslos schuldig sind und ganz zu Recht für unsere Sünden verdammt werden, ist Gott doch willens, uns von dem Fluch seines Gesetzes freizusprechen und uns in einem Akt reiner Barmherzigkeit alle Segnungen zu schenken, die gerechten Menschen zukommen. Erinnere dich, wie schon David das erkannt und im 32. Psalm davon gesprochen hat: „Wohl dem, dessen Übertretung vergeben, dessen Sünde zugedeckt ist! Wohl dem Menschen, dem der HERR keine Schuld anrechnet, und in dessen Geist keine Falschheit ist!“ Das ist eine Botschaft, für die es sich zu sterben lohnt, dass Gott aufgrund des Bundes der Gnade sowohl gerecht sein kann als auch den rechtfertigen, der an Jesus glaubt; dass er der gerechte Richter der Menschen sein kann und dennoch die, die glauben, durch die Gnade umsonst gerechtfertigt werden durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist. Dass Gott gnädig und barmherzig ist und bereit, den Allerunwürdigsten zu segnen, das ist eine wunderbare Nachricht! Ein Mann möchte wohl hundert Jahre leben, um sie zu erzählen. Mein Herz hüpft in mir, während ich das in diesem Saal wiederhole und den Reumütigen, den Verzagten und Verzweifelten sage, dass sie für ihre Sünden zwar die Hölle verdienen, dass die Gnade ihnen aber den Himmel schenken und sie dafür tauglich machen kann – und zwar als einen souveränen Akt der Liebe, ganz unabhängig von ihrem Charakter oder ihren Verdiensten. Weil der Herr gesagt hat: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und über wen ich mich erbarme, über den erbarme ich mich“ – deswegen gibt es Hoffnung für die Hoffnungslosesten. Da es „nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen“ (Römer 9,16) liegt, ist die Tür der Hoffnung offen für die, die sonst verzweifeln müssten. Es ist so, als ob eine große Gerichtsverhandlung stattgefunden hätte und der Richter von einer Grafschaft zur anderen gezogen und eine Anzahl von Gefangenen verurteilt worden wäre, und es bliebe nichts anderes übrig, als dass ihre Urteile vollstreckt würden. Und siehe da, plötzlich verkünden Boten in seidenen Gewändern mit silbernen Posaunen, dass der König eine Möglichkeit gefunden hat, wie er, ohne der Gerechtigkeit Abbruch zu tun, den Verurteilten reine Barmherzigkeit erzeigen kann und ihnen ohne Gegenleistung Begnadigung, sofortige Entlassung aus dem Gefängnis und einen Platz in der Gunst und im Dienst seiner Majestät gewähren wird. Wäre das nicht eine frohe Botschaft für die Verurteilten in ihren Zellen? Wärest du nicht gerne derjenige, der den armen Gefangenen diese Nachricht brächte? Ach Paulus! Ich kann deine heilige Begeisterung über diese Offenbarung über die freie Gnade gut verstehen. Ich kann verstehen, dass du dein Leben bereitwillig in die Waagschale geworfen hast, um deinen Mitsündern zu verkünden, dass die Gnade durch Gerechtigkeit zum ewigen Leben herrscht.

Aber das Evangelium spricht von noch viel mehr – davon nämlich, dass Gott der Vater selbst das große Hindernis, das der Gnade im Weg stand, beseitigt hat, damit er den Menschen seine Gunst ohne Gegenleistung zuwenden konnte. Gott ist gerecht – das ist eine unumstößliche Wahrheit. Das Gewissen des Menschen bezeugt es und hat keine Ruhe, bis der Gerechtigkeit Gottes Genüge getan ist. Damit er in seiner Gerechtigkeit Menschen mit reiner Gnade begegnen konnte, gab Gott seinen eingeborenen Sohn, damit durch seinen Tod die Forderung des Gesetzes erfüllt würde, und die ewigen Grundsätze seiner Herrschaft aufrechterhalten werden könnten. Jesus wurde als Stellvertreter bestimmt, um die Sünde des Menschen zu tragen und die Strafe für seine Schuld zu erleiden. Wie klar sagt Jesaja das in seinem 53. Kapitel! Nun ist die Rettung des Menschen gesichert, denn das Gebot ist nicht ungültig gemacht und das Urteil nicht widerrufen worden. Alles, was der strengste Richter fordern konnte, ist erledigt und erlitten und die Hände der Gnade nicht mehr gebunden – sie kann Begnadigung austeilen, wie es ihr gefällt. Der Schuldner ist freigelassen, denn die Schuld ist bezahlt. Sieh den sterbenden Retter und höre, wie der Prophet sagt: „Die Strafe lag auf ihm, damit wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt worden.“ Auch hier ist alles Gnade. Brüder, der Beschluss Gottes, eine Sühne zu entwerfen und anzunehmen, entsprang Gottes Gnade. Sie zeigt sich vor allem darin, dass er diese Sühne auf eigene Kosten zur Verfügung stellt. Das ist das Wunderbare: Er, der beleidigt wurde, sorgt selbst für die Versöhnung. Er hatte nur einen einzigen Sohn, und damit kein Hindernis bestünde, um mit den Menschen nach seiner freien Gnade zu handeln, gab er lieber den Sohn aus seinem Schoß und erlaubte ihm, unsere schwache Natur anzunehmen und in dieser Natur zu sterben, der Gerechte für die Ungerechten, um uns zu Gott zu bringen. Du bewunderst Abraham dafür, dass er Gott seinen Sohn opferte; bewundere vielmehr Jehova, der seinen Sohn für Sünder dahingab. „Darin besteht die Liebe — nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und seinen Sohn gesandt hat als Sühnopfer für unsere Sünden.“ Das also ist das Evangelium der Gnade Gottes – dass Gott, ohne seine Gerechtigkeit aufzugeben, mit Menschen gemäß seiner freien Gnade handeln kann, ganz unabhängig von ihren Sünden oder Verdiensten, weil ihre Sünden auf seinen geliebten Sohn Jesus Christus gelegt wurden, der die göttliche Gerechtigkeit völlig befriedigt hat. Und so ist Gott zugleich herrlich in seiner Heiligkeit und reich an Barmherzigkeit. Ach, geliebter Paulus, das ist etwas, das sich zu predigen lohnt!

Das Evangelium offenbart auch – in Übereinstimmung mit der Gnade Gottes – ein Motiv für die Barmherzigkeit. Jede Handlung eines weisen Mannes braucht ein vernünftiges Motiv; vernünftige Menschen handeln nicht ohne vernünftiges Motiv. Dasselbe gilt für Gott, der höchsten Intelligenz überhaupt; seine Beweggründe sind die allerhöchsten. Das Motiv, das ihn bewegt, Menschen auf dem Boden der freien Gnade zu begegnen, offenbart seinen herrlichen Charakter. Er sagt: „Nicht euretwegen werde ich dies tun, spricht GOTT, der Herr, das sollt ihr wissen! Schämt euch und errötet über eure Wege, ihr vom Haus Israel!“ Er wirkt die Wunder seiner Gnade, „damit jetzt den Fürstentümern und Gewalten in den himmlischen Regionen durch die Gemeinde die mannigfaltige Weisheit Gottes bekannt gemacht werde, nach dem Vorsatz der Ewigkeiten, den er gefasst hat in Christus Jesus, unserem Herrn“. Er findet ein Motiv in seiner eigenen Natur und Barmherzigkeit, da er es nirgendwo anders finden konnte. Er wird mit sündigen Menschen gemäß seinem souveränen Willen verfahren „zum Lob der Herrlichkeit seiner Gnade, mit der er uns begnadigt hat in dem Geliebten“. Er rettet Menschen, damit sein eigener geliebter Sohn Jesus Christus verherrlicht und gepriesen und hoch erhoben werde, und damit sein Heiliger Geist die Ehre bekäme, weil er aus rebellischen Menschen neue Kreaturen macht. Hört dies, ihr, die euch eure Schuld niederdrückt: Gott ist in der Lage, mit euch auf der Grundlage der reinen Gnade zu verfahren, ohne seiner Gerechtigkeit Abbruch zu tun, und er hat einen Grund dafür gefunden, einen Grund, der für die schlechtesten Menschen ebenso gilt wie für die besten. Wenn er um seiner eigenen Herrlichkeit willen schuldige Sünder rettet, dann gibt es ein offenes Fenster, durch das Licht zu denen hineindringen kann, die in der dichtesten Düsternis der Verzweiflung sitzen.

Um die Pläne der Gnade zu verwirklichen, war es ferner nötig, dass die Botschaft des Evangeliums voller Verheißungen, Ermutigungen und Segnungen daherkäme. Und diese Botschaft hat uns wahrhaftig erreicht, denn das Evangelium, das wir jetzt verkündigen, ist bis zum Rand voll mit Gnade. Es spricht: „Komm, Sünder, so wie du bist! Kehre zum Herrn um, und er wird dich gnädig annehmen und ohne dein Verdienst lieben.“ Gott hat gesagt: „Ich werde gnädig sein gegen ihre Ungerechtigkeiten, und an ihre Sünden und ihre Gesetzlosigkeiten werde ich nicht mehr gedenken“. Nicht um deiner Kämpfe, Tränen oder Reue willen, sondern um Christi willen wird er deine Sünden so weit von dir entfernen wie der Osten vom Westen ist. Er sagt: „Kommt doch, wir wollen miteinander rechten. Wenn eure Sünden wie Scharlach sind, sollen sie weiß werden wie der Schnee; wenn sie rot sind wie Karmesin, sollen sie weiß wie Wolle werden.“ Du kannst so, wie du bist, zu Jesus kommen, und er wird dir alles erlassen, wenn du an ihn glaubst. Der Herr sagt heute: „Schau nicht nach innen, um irgendeine Würdigkeit in dir zu suchen, sondern schau auf mich und werde gerettet. Ohne Verdienst will ich dich segnen entsprechend dem Sühneopfer Jesu.“ Er spricht: „Schau nicht in dich hinein, um Kraft für das zukünftige Leben zu finden: Ich bin dir zu Kraft und Rettung geworden, denn als du noch kraftlos warst, ist Christus zur bestimmten Zeit für den Gottlosen gestorben.“ Die Einladung des Evangeliums lautet: „Wohlan, ihr Durstigen alle, kommt her zum Wasser; und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch!“ Kommt! Ihr seid willkommen, ihr Lahmen, ihr Gebrechlichen, ihr Blinden, ihr Irrenden, ihr Verdorbenen, ihr Elenden! Ihr seid eingeladen, nicht weil ihr gut seid, sondern weil ihr böse seid; nicht weil ihr hoffnungsvoll seid, sondern weil ihr hoffnungslos seid. Das Evangelium ist eine Botschaft der Gnade, die denen gilt, die außer ihrer Not nichts vorzuweisen haben. Die Gesunden brauchen keinen Arzt, sondern die Kranken. Christus kam nicht, um die Gerechten zu rufen, sondern die Sünder zur Buße. Deshalb kommt, ihr moralisch Kranken, deren Brauen weiß sind vom Aussatz der Sünde, kommt und fühlt euch willkommen. Für euch ist dieses freie Evangelium, dass die göttliche Autorität euch verkünden lässt. Gewiss ist die Verbreitung einer solchen Botschaft jede Anstrengung wert! So gesegnet, so göttlich ist sie, dass wir mit Freuden unser Blut vergießen, um sie zu verkünden.

Mehr noch, liebe Brüder: Damit der Segen dieses Evangeliums für die Menschen erreichbar wird, hat die Gnade Gottes eine Methode gewählt, die ihrem Zustand angemessen ist. „Wie kann mir vergeben werden?“, fragt einer. „Schnell, sag mir die Wahrheit!“ „Glaube an den Herrn Jesus Christus, und du wirst gerettet werden.“ Gott verlangt keine guten Werke von dir, auch keine guten Gefühle, sondern nur die Willigkeit, das anzunehmen, was er dir so willig schenkt. Er rettet dich auf deinen Glauben hin. Das ist Glaube: Dass du glaubst, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist, und dass du dich ihm anvertraust. „Allen aber, die ihn aufnahmen, denen gab er das Anrecht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben.“ Wenn du glaubst, bist du gerettet. Errettung ist „aus Glauben, damit es aufgrund von Gnade sei, auf dass die Verheißung dem ganzen Samen sicher sei.“

Sagst du: „Aber der Glaube selbst scheint mir unerreichbar zu sein“? Dann wird uns im Evangelium der Gnade Gottes mitgeteilt, dass selbst der Glaube ein Geschenk ist, und dass er ihn durch den Heiligen Geist in den Menschen bewirkt. Denn ohne diesen Geist wären sie tot in Übertretungen und Sünden. O welche Gnade, dass uns der Glaube, der uns befohlen wird, auch geschenkt wird! „Aber“, wendet jemand ein, „Ich fürchte, dass ich, selbst wenn ich an Christus glaube und meine Schuld vergeben wird, doch wieder zurückfalle in die Sünde. Ich habe die Kraft nicht, mich davon fernzuhalten.“ O höre doch! Zum Evangelium der Gnade Gottes gehört, dass er dich bis zum Ende bewahren wird. Er wird das Feuer, das er in dir entfacht, am Brennen erhalten. Denn er sagt: „Ich gebe meinen Schafen ewiges Leben“, und wiederum: „Das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das bis ins ewige Leben quillt.“ Die Schafe Christi werden nie verlorengehen, noch wird jemand sie aus der Hand Christi reißen. Hörst du das, du Schuldbeladener, der keinerlei Anspruch auf die Gnade Gottes hat? Seine freie Gnade kommt zu dir, ja, auch zu dir, und wenn du willig gemacht wirst, sie zu empfangen, wirst du heute noch gerettet, und zwar für immer. Das ist über jeden Zweifel erhaben. Ich sage es noch einmal: Das ist ein Evangelium, das es wert ist, gepredigt zu werden, und ich verstehe Paulus nur allzu gut, wenn er sagt: „Mein Leben ist mir auch selbst nicht teuer, wenn es gilt, meinen Lauf mit Freuden zu vollenden und den Dienst, den ich von dem Herrn Jesus empfangen habe, nämlich das Evangelium von der Gnade Gottes zu bezeugen.“ In einem alten Buch las ich einmal von einem Traum, den jemand hatte, der in Sorge um seine Seele war. Er schlief ein und träumte, dass er sich draußen in der Wildnis in einem schrecklichen Sturm befand. Blitze zuckten rings um ihn her, und das Grollen des Donners ließ die Erde unter ihm erbeben. Suchend schaute er sich nach einem Unterschlupf um. Er rannte auf das erstbeste Haus zu, aber man ließ ihn nicht herein. Der, der dort wohnte, hieß Gerechtigkeit und sagte zornig: „Mach dich fort – ich kann einem Verbrecher, der seinen König und Gott verraten hat, keinen Unterschlupf gewähren!“ Er floh zum nächsten Haus. Es zeigte sich, dass hier die Wahrheit wohnte. Die Wahrheit kam mit ruhiger, aber strenger Miene an die Tür und sagte: „Du bist voller Falschheit. Du kannst hier nicht bleiben.“ Dann floh er zum Haus des Friedens, das in der Nähe lag, und hoffte, dort Zuflucht vor dem Sturm zu finden. Aber der Friede sprach: „Weg von hier! Mein Gott sagt: Kein Friede den Gottlosen!“ Ratlos stand er da, während die Wut des Sturmes zunahm. Da erblickte er eine Tür, über der „Barmherzigkeit“ geschrieben stand. „Das ist die rechte Adresse für mich“, sagte er sich, „denn ich bin schuldig.“ Die Tür stand offen, und man hieß ihn herzlich willkommen. In dieses Haus lade ich dich ein. Tritt ein und finde Ruhe. Du, dem Gerechtigkeit, Frieden und Wahrheit die Tür weisen, darfst zur Barmherzigkeit kommen und überfließende Gnade empfangen.

Du scheinst geneigt, den Weg und die Methode der Gnade anzunehmen? Lass mich dich prüfen. Manche denken ja, dass sie etwas lieben und tun es doch nicht, weil sie etwas nicht recht bedacht haben. Verstehst du, dass du keinen Anspruch an Gott hast? Er sagt: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und über wen ich mich erbarme, über den erbarme ich mich.“ Wenn es um reine Barmherzigkeit geht, ist klar, dass es keinen Rechtsanspruch darauf gibt. Es kann gar keinen Anspruch geben, denn es handelt sich um Gnade und nicht um Schuldigkeit. Wenn Gott vorhat, den einen zu retten, und den anderen in seiner eigenen willentlichen Sünde umkommen zu lassen, so kann derjenige nicht wagen, mit Gott zu argumentieren. Oder sollte er es doch versuchen, so wird die Antwort sein: „Kann ich nicht mit dem Meinigen tun, was ich will?“ Oh, nun sieht es aus, als ob du zurückschreckst! Sieh, wie dein Stolz sich gegen die Souveränität der Gnade auflehnt! Ich will dich wieder herbeiwinken. Obwohl du keinen Anspruch geltend machen kannst, gibt es eine andere Wahrheit, die dir günstig ist; denn andrerseits gibt es kein Hindernis für dich, um Gnade zu erlangen. Wenn kein Gutsein erforderlich ist, um dich Gott zu empfehlen, weil er alles nur aus reiner Gunst schenkt, dann kann dich auch keine Schlechtigkeit von dieser Gnade ausschließen. Egal wie schuldig du bist – es ist möglich, dass Gott dir Gunst erweist. Er hat in einem anderen Fall den größten der Sünder berufen – warum also nicht auch dich? Keine Verschlimmerung der Sünde, kein Beharren in der Sünde, kein noch so hohes Maß an Sünde kann ein Grund sein, dass Gott dich nicht gnädig ansieht. Denn wenn es reine Gnade und nichts als Gnade ist, dann kann der allerschlimmste Übertreter gerettet werden. Er bietet der Gnade die Gelegenheit, ihre ganze Größe zu zeigen. Ich habe gehört, wie Menschen die Lehre der Erwählung als Ausrede benutzten und sagten: „Und was ist, wenn ich nicht auserwählt bin?“ Mir erscheint es viel weiser zu sagen: „Was, wenn ich auserwählt bin?“ Ja, wenn ich an Jesus glaube, bin ich auserwählt, denn noch nie hat sich eine Seele aus sich selbst heraus auf die Versöhnung durch Christus verlassen, sondern die tun das, die Gott auserwählt hat vor Grundlegung der Welt.

Dies ist das Evangelium der Gnade Gottes, und ich weiß, dass viele von euch im Herzen davon berührt sind. Oft bewegt es mein Herz wie der Klang von Marschmusik, wenn ich an die Gnade meines Herrn vor aller Ewigkeit denke, eine Gnade, die an ihrer Wahl festhält und daran festhalten wird, wenn die Dinge dieser Erde verpufft sein werden wie die Funken, die aus dem Kamin stieben. Mein Herz jubelt in mir, weil ich diese freie Gnade und sterbende Liebe verkünden darf. Ich kann verstehen, warum sich Menschenmassen mitten in der Nacht versammeln, um von der Gnade Gottes zu hören. Ich kann die Covenanters auf den kahlen Hügeln verstehen, wie sie da standen mit leuchtenden Augen, als Cameron von der Gnade des großen Königs predigte! Es ist etwas um dieses Evangelium von der freien Gnade, das wert ist, gepredigt und wert, gehört zu werden, und das wert ist, dafür zu leben und wert, dafür zu sterben.

  1. Das bringt mich zu meinem zweiten Hauptpunkt: Du und ich sind noch nicht berufen, dafür zu sterben – wir wollen zusehen, dass wir heute dafür leben. Wie können wir für dieses Evangelium der Gnade Gottes leben?

Als erstes möchte ich dazu sagen: Wenn jemand hier für dieses Evangelium leben will, muss er es von Gott empfangen haben, und er muss einen Ruf bekommen haben, darin zu dienen. Er muss sich gebunden fühlen, dieses Evangelium zu halten und zu bewahren – nicht so sehr, weil er es gewählt hat, als weil es ihn gewählt hat. Ich kann mich nicht erinnern, wie er hieß, aber einem originellen alten Diener des Herrn wurde einmal gesagt, dass er auf einer bestimmten Kanzel nicht predigen dürfe, wenn er an den Lehren der Gnade festhalte. „Nun“, sagte er, „dann darf ich da wohl predigen, denn ich kann ehrlich sagen, dass nicht ich an den Lehren der Gnade festhalte, sondern die Lehren der Gnade an mir festhalten.“ Das mag ein bisschen spitzfindig sein, aber es liegt eine große Wahrheit darin. Wenn ein Mensch sich sein Glaubensbekenntnis selbst aussucht, stehen die Chancen gut, dass er sich demnächst ein anderes aussucht. In der Liebe, die unser häusliches Glück bewirkt, gibt es eine gewisse Unausweichlichkeit. Wir haben unseren geliebten Menschen zwar erwählt, aber es war uns auch gar nicht anders möglich; wir waren hingerissen und überwältigt, und so kam unsere Ehe zustande. Es war nicht nur eine Entscheidung; es gab eine mystische Macht, die unser Herz in Ketten schlug, und genauso ist es mit den Lehren der Gnade, wenn wir sie glauben. Wir wählen sie mit williger Seele, aber wir sind gezwungen und können nicht anders. Für mich gibt es nur eine Lehre; eine andere kenne ich nicht. Brüder, ich kann keinen anderen Glauben haben als den, den ich nun seit fast 29 Jahren von dieser Kanzel predige. Ich denke, ich habe ebenso viel gelesen wie andere, und ich kenne die meisten Windungen der fortschrittlichen Denker, aber habe sie nie verstanden und kann es auch nicht. Allein die Idee einer fortschrittlichen Veränderung des Evangeliums, das Paulus predigte, ist mir zutiefst zuwider. Ich bin heute immer noch am selben Punkt wie damals, als ich als junger Mann in diesem Saal vor Menschenmassen predigte. Ich bin in meiner Theologie keinen Millimeter „fortgeschritten“. Ich hoffe, dass ich die Wahrheit heute besser und mit mehr praktischer Erfahrung predige, aber ich predige immer noch dasselbe wie vor 33 Jahren. Kennt ihr die Geschichte des Jungen, der auf dem brennenden Deck stand, weil sein Vater gesagt hatte: „Hier bleibst du stehen“? Diese Standhaftigkeit möchte ich nachahmen. Andere Jungen waren vielleicht intelligenter als er, aber seine Weisheit bestand im Gehorsam. Ich ziehe den Gehorsam gegen Gott meiner eigenen Weisheit vor. Das Evangelium, das die Bibel mir offenbart und der Heilige Geist mich gelehrt hat, das und kein anderes muss ich predigen. Ich bin unfähig, die neuesten Neuerungen zu glauben. Ich muss an meinem alten Glauben festhalten. Wie Luther möchte ich sagen: „Ich kann nicht anders. Gott helfe mir!“. Ich kenne heute kein anderes Evangelium als das, das ich kannte, als ich zum Glauben an Jesus kam. Ich weiß, dass wir aus Gnade durch den Glauben errettet werden, und das nicht aus uns, Gottes Gabe ist es. Was sonst müsste ich noch wissen? Wenn du willst, mein Bruder, dann verlass diesen Felsen. Vielleicht kannst du ja schwimmen. Ich aber muss bleiben, wo ich bin, denn ich würde ertrinken. Wenn das Krachen des Gerichts ertönt, werde ich hier stehen, so wahr mir Gott helfe, und dem Evangelium der Gnade Gottes glauben und keinem anderen Bekenntnis.

Ich hoffe, dass in dieser Anhänglichkeit und Hartnäckigkeit etwas steckt, das uns helfen wird, das Evangelium zu bewahren, wenn nicht gar zu verbreiten. In dieser unserer Zeit ist Standhaftigkeit von besonderem Wert, und ich fordere euch dringlich dazu auf. Ich flehe euch an, steht fest zu diesem Evangelium, das wir empfangen haben, dem Evangelium der Gnade Gottes, solange ihr lebt.

Aber das nächste, was Paulus tat, war, es bekanntzumachen. Wo immer er hinkam, hat er das Evangelium verbreitet. Das ist es, was wir tun müssen. „Oh!“, sagt jemand. „Das kann ich nicht.“ Warum nicht? „Ich könnte das Evangelium nicht weitergeben.“ „Warum nicht?“ „Ach, ich bin eine Person von unscheinbarem Äußeren, und ich glaube nicht, dass die Leute mich respektieren würden.“  Genau das haben sie über Paulus gesagt. „Seine leibliche Gegenwart ist schwach.“ „Ach, und ich bin kein Redner.“ Auch das haben sie von Paulus gesagt: „Seine Rede ist verächtlich.“ „Wenn ich etwas sagen sollte, kann ich es nicht mit Redewendungen oder Gleichnissen schmücken. Ich kann keine Gedichte zitieren, damit es schöner klingt.“ Paulus hat auch eine schlichte Sprache benutzt. Er sagt: „Wir gebrauchen Freimütigkeit.“ Viele der anderen Lehrer waren rhetorisch sehr begabt, aber Paulus schreckte vor rhetorischen Kniffen eher zurück. Er stand auf und ließ die Wahrheit ungehindert von seinen Lippen fließen, wie es ihm gegeben wurde. Ich glaube, wir brauchen heute Prediger, die nicht vornehm oder gelehrt oder akademisch oder außerordentlich reden; Männer, von denen du sagen wirst: „Ich kann nicht verstehen, warum solche Scharen kommen, um ihn zu hören. Es kann nur am Inhalt seiner Rede liegen, denn er spricht nicht besonders großartig; er scheint sich noch nicht einmal darum zu bemühen. Er scheint nur von einem angetrieben zu sein – die Botschaft aus seinem Herzen in das Herz der Leute weiterzugeben.“ Genau das hat Paulus getan. Meinst du nicht, dass du das Evangelium auf diese Weise verkünden kannst? „Oh, aber ich habe so viele Schwachheiten.“ Nun, Paulus sagte, er rühme sich seiner Schwachheiten, denn desto deutlicher ruhe die Kraft Christi auf ihm. Wenn er gepredigt hatte, konnten die Leute nicht sagen: „Das hat uns so angesprochen, weil Paulus alle rhetorischen Künste aufgeboten hat. Wir verstehen, warum uns diese Botschaft so durchs Herz gegangen; er hat so eine wohlklingende melodische Stimme. Wir verstehen, warum wir ihm so gerne zuhören; seine ausdrucksvollen Augen schauen uns bis ins Herz.“ Nun, es ist sehr wahrscheinlich, dass Paulus schwache Augen hatte. Seinem Namen nach zu urteilen, war er wohl klein von Wuchs, und vermutlich sprach er sehr schlicht. Aber er hat das alles nie bedauert. Im Gegenteil glaubte er, dass er in seiner Schwachheit stark war, weil die Kraft Christi auf ihm war. Er hoffte, dass genau aus diesem Grund ihr Glaube nicht auf Menschenweisheit beruhte, sondern auf Gottes Kraft. Brüder und Schwestern, wenn das so ist, sind wir alle qualifiziert, hinauszugehen und das Evangelium der Gnade Gottes zu verkünden.

Paulus wollte aber auch vom Evangelium Zeugnis ablegen. Zeugnis ist mehr als Verkündigung; es bedeutet, sein persönliches Zeugnis zu geben. Paulus war dazu ganz besonders qualifiziert. Wenn er predigte, erzählte er oft die Geschichte von dem grimmigen Verfolger, der auf dem Weg nach Damaskus war und plötzlich niedergeworfen wurde. Dieser Verfolger hatte nie darum gebeten, aus Gnaden gerettet zu werden, er hat sich nicht aus freiem Willen für Christus entschieden, sondern hatte einen ganz starken Widerwillen gegen ihn. Er warf Männer und Frauen ins Gefängnis und zwang sie zu lästern und wütete regelrecht gegen sie. Oh, wie wunderbar beschrieb Paulus das Evangelium der Gnade Gottes, wenn er erzählte: „Der Herr erschien mir auf dem Weg.“ „Darum ist mir Erbarmung widerfahren, damit an mir zuerst Jesus Christus alle Geduld erzeige, zum Beispiel denen, die an ihn glauben würden zum ewigen Leben.“ Freund, kannst du nicht von deiner Bekehrung erzählen und die Leute wissen lassen, wie die freie Gnade dir begegnet ist, als du nicht nach ihr gesucht hast?

Damit nicht genug, erzählte Paulus oft, wie das Evangelium sein Trost war, als er gesteinigt und durch falsche Brüder bedrängt wurde und die Gnade Gottes ihn dennoch aufrechterhielt. Paulus konnte auch von seinen himmlischen Freuden berichten: Wie oft war er über die Maßen aufgerichtet worden und triumphierte in Christus, indem er sich vom Evangelium der Gnade Gottes nährte. Seine persönliche Erfahrung mit der Macht, die es über ihn hatte, gebrauchte er als großartiges Instrument und Argument zur Verbreitung des Evangeliums. Das bedeutet es, Zeugnis abzulegen.

Mein Freund, wenn das Evangelium nichts für dich getan hat, dann halte den Mund oder sprich dagegen; aber wenn das Evangelium das für dich getan hat, was es für einige von uns getan hat, wenn es deinen Lebenslauf verändert hat, wenn es dich aus dem Misthaufen herausgezogen und sozusagen auf den Thron gesetzt hat, wenn es dein tägliches Brot geworden ist und das Zentrum und die Sonne deines Lebens – dann bezeuge es unablässig. Wenn das Evangelium dir das geworden ist, was es mir geworden ist, das Licht in der Tiefe meines Herzens, der Kern meines Seins, dann erzähle davon, erzähle es, wo du gehst und stehst, und lass die Menschen wissen, dass, auch wenn sie es ablehnen, es für dich die Kraft Gottes zur Errettung ist, und dass es diese Kraft sein wird für jeden, der glaubt.

  1. Meine Zeit ist abgelaufen, aber ich muss euch noch eine Minute festhalten, um euch, meine Brüder, an die Gründe zu erinnern, warum wir leben sollten, um das Evangelium der Gnade Gottes bekanntzumachen.

Erstens, weil es schließlich das einzige Evangelium in der Welt ist. Diese Evangelien, die zurzeit wie Pilze aus dem Boden schießen, haben weniger Bestand als eine Boulevardzeitung, die einen Tag aktuell ist und dann weggeworfen wird. Sie können keinen Anspruch erheben, dass man dafür eifert. Diese wechselnden Monde der Lehre – was bewirken sie für England? Sie bewirken viel Übles in dieser Stadt – sie nehmen den meisten Menschen die Lust, überhaupt irgendeinen Gottesdienst zu besuchen. Warum sollten sie kommen, um Ungewissheiten zu hören? Warum sollten sie kommen, um lediglich moralisierend über ihre Pflichten belehrt zu werden? Etwas so Unattraktives zieht keine Menschenmassen an. Warum sollte ich mich Sonntag für Sonntag auf den Weg machen, um mir Essays über Moral anzuhören? Da kann ich ebenso gut zuhause bleiben und die Zeitung lesen. Aber um das Evangelium der Gnade zu hören, lohnen sich viele Meilen Fußmarsch, und wenn es in all unseren Kirchen und Kapellen deutlich verkündet würde, gäbe es garantiert kaum leere Kirchenbänke. Die Leute würden kommen und es hören, denn das haben sie immer getan. Es ist euer gnadenloses Evangelium, das die Herde solange hungern lässt, bis sie die Weide verlässt. Es ist euer sozinianisches Vernünfteln, das die Menschen dazu bringt, den Predigtdienst und die öffentlichen Gottesdienste zu verachten. Das alte Evangelium ist ein Wohlgeruch, der die Massen anzieht. Als Whitefield es verkündete, welcher Platz war groß genug, um die Tausende zu fassen? Der Mensch sucht etwas, dass ihm bei all seiner Mühe Freude und in seiner Sündennot Hoffnung gibt. So wie der Durstige Wasser braucht, so braucht der Mensch das Evangelium der Gnade Gottes. Und es gibt keine zwei Evangelien in der Welt – gerade so wenig wie es zwei Sonnen am Himmel gibt. Es gibt nur eine Luft zum Atmen und ein Evangelium, durch das wir leben können. „Einen anderen Grund kann niemand legen, außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus, der Gerechte.“ Deshalb verkündigt das Evangelium, damit die Menschen nicht sterben, weil sie es nicht kennen.

Tut es ferner, weil es Gott verherrlicht. Seht ihr nicht, wie es Gott verherrlicht? Es erniedrigt den Sünder – der Mensch ist nichts, aber Gott ist alles in allem. Es erhebt Gott auf den Thron und legt den Menschen in den Staub, und dann führt es Menschen freundlich dahin, den Gott aller Gnade anzubeten und zu verehren, den Gott, der Übertretung, Ungerechtigkeit und Sünde vergibt – deshalb macht es bekannt.

Macht es bekannt, weil ihr so Christus verherrlicht. Oh, wenn er heute Morgen auf diese Kanzel käme, wie gerne würden wir ihm alle Platz machen! Wie andächtig würden wir ihn anbeten! Wenn wir nur dieses Haupt sehen dürften, dieses geliebte, majestätische Haupt, würden wir uns nicht alle in Anbetung neigen? Und wenn er dann sagte: „Meine Geliebten, ich habe euch mein Evangelium anvertraut; haltet es fest, wie ihr es empfangen habt! Gebt den Ideen und Erfindungen der Menschen nicht nach, sondern haltet die Wahrheit fest, wie ihr sie empfangen habt, und geht hin und gebt mein Wort weiter, denn ich habe andere Schafe, die noch nicht in meinem Stall sind und noch hereingebracht werden müssen. Ihr habt Brüder, die noch verloren sind, und sie müssen nach Hause kommen! Ich verspreche euch, wenn er jedem von euch so in die Augen schaute und so zu euch spräche, würde eure Seele antworten: „Herr, ich will für dich leben! Ich will dich bekanntmachen! Ich will, wenn es sein muss, für dich sterben, um das Evangelium von Jesus Christus zu verkündigen.“

Nun, wenn du und ich uns heute erheben – und Gottes Heiliger Geist möge uns helfen, das zu tun! – und anfangen, das Evangelium der Gnade Gottes zu verkündigen, weißt du, was meiner Meinung nach geschehen wird? Ich prophezeie die besten Ergebnisse! Man sagt uns, dass alles mögliche Böse immer mehr zunimmt, und Brüder bringen uns düstere Prophezeiungen über schreckliche Zeiten, die auf uns zukommen – ich kann euch gar nicht sagen, wie schrecklich. Einige sagen, das Papsttum kommt zurück, und die Hure der sieben Hügel wird die Erde noch einmal beherrschen. Wird sie das? Wir werden es sehen. Ich sage euch, wenn ihr das Evangelium der Gnade Gottes kühn bezeugt, wird es nicht so kommen. Es kann nicht so kommen, wenn das Evangelium der Gnade vollständig und klar gepredigt wird. Hört, was Johannes sah: „Und ich sah einen anderen Engel in der Mitte des Himmels fliegen, der hatte ein ewiges Evangelium den Bewohnern der Erde zu verkündigen, allen Nationen und Stämmen und Sprachen und Völkern. Der sprach mit lauter Stimme: Fürchtet Gott und gebt ihm die Ehre.“ Siehst du diesen Engel? Schaut genau hin, was dann folgt. Dicht hinter ihm fliegt ein anderer himmlischer Ausrufer. „Und ein zweiter Engel folgte ihm, der sprach: Gefallen, gefallen ist Babylon die Große, die mit dem Glutwein ihrer Unzucht alle Völker getränkt hat!“ Flieg, Engel des ewigen Evangeliums! Flieg, denn so gewiss du deinen Flug beschleunigst, wird dieser andere Engel folgen, der den Fall Babylons ausrufen wird sowie den Fall jeden anderen Systems, das sich der Gnade des Herrn, des allmächtigen Gottes, widersetzt! Der Herr wecke euch auf um seines Namens willen! Amen.

 

[1] Diese Predigt wurde von Ruth Metzger übersetzt.

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