Für M.W.:
Einst hatte ich einen weisen Bruder zu Besuch gehabt. Dem erzählte ich Begebenheiten aus der Jugendzeit, die er sicherlich schon in ähnlicher Weise von manch einem anderen gehört hatte. Denn viele aus seinem wie meinem Bekanntenkreis hatten durchaus unangenehme Erfahrungen mit einem Gemeindeverantwortlichen gemacht. Der Bruder hörte sehr aufmerksam zu, stellte Fragen und plötzlich gab er einen Ratschlag, den ich nicht erwartet hatte. Ich kann mich nicht mehr an den genauen Wortlaut erinnern, doch sinngemäß ging es darum: “Ich kann dir nur das empfehlen, was ich schon anderen (mit den gleichen Erfahrungen) gesagt habe: Ihr müsst einmal ganz entschieden ins Gebet gehen und vor Gott diesem Bruder vergeben!” (wahrscheinlich zitiere ich jetzt gerade äußerst frei!). Es blieb mir auch nur ein Satzteil wirklich sitzen, aber das ziemlich tief: Was, ich sollte dem Bruder vergeben?! Ich habe ihm doch nichts zu vergeben!
Diese Anmerkung übrigens fand ich zum Zeitpunkt des Gesprächs für völlig verfehlt! Ich konnte doch Problem damit haben, zu vergeben! Hallo, ich bin Christ, da ist Vergebung doch schließlich selbstverständlich! Mein Kummer über den Machtmissbrauch des ehemaligen Pastors war für mich derart offensichtlich ein Verlangen nach Gerechtigkeit, dass ich die darin wachsende Rachgier nicht mehr bemerkte. Deswegen kam ich erst Tage später über das Gespräch zum Nachdenken. Sollte da etwas dran sein? Einige Schlussfolgerungen möchte ich mit euch teilen:
- Ich habe doch ein Problem damit, jemanden zu vergeben: Dass es mir derart schwer fällt begangenes Unrecht zu vergeben, ist mir äußerst peinlich. Nicht dass der Bruder das ansprach, war mir peinlich, den er forderte von mir keine Verantwortung sondern gab nur eine Anmerkung! Aber peinlich war mir, dass in mir ein derart festgesetztes Problem vollständig von mir unbemerkt keimen konnte, ist schon echt peinlich. Als Christ sollte ich doch kein Vergebungsproblem haben! Quadratzahlen beherrsche ich doch bis 70×70! Doch der Bruder hatte recht und half mir so, mit vielen unangenehmen Vergangenheitserinnerungen Frieden zu schließen.
- Sergej braucht eure Hilfe. Das jemand einen Fehler sah, den ich völlig übersah, ist ordentlich ernüchternd. Wie sehr ich also die Unterstützung meines Nächsten bedürfe, werde ich erst rückblickend in Neu-Jerusalem völlig erfassen. Deswegen mutig ermahnt, wenn ihr mich schwanken seht!
- Rache tarnt sich als Gerechtigkeit: Ein Grund warum, ich mein Problem übersah, lag darin, dass ich meine Rachsucht für Gerechtigkeit hielt. Ich gestehe, dass mir das zu unterscheiden, wirklich schwer fällt: Rache füllt sich gerecht an, führt aber in eine zerstörerische Abwärtsspirale des Hasses: Jemand hackt mir einen Finger ab, also nehme ich von ihm zwei und er wiederum hackt mir nun die ganze Hand ab. Es gibt keine Möglichkeit das Böse zu überwinden, mit dem Guten: “Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.” (Röm. 12,21). Niemals kann das Böse mit Bösem überwunden werden (Vgl. 3. Joh. 11!).Deswegen ist nicht Rache, sondern Vergebung das Gebot der Stunde. Jesus ist hier Vorbild: Oh er vergibt der auf frischer Tat erwischten Sünderin. Denkt ja nicht, dass Jesus diese Vergebung nichts gekostet hat, da er ja nicht direkt betroffen war. Er war direkter betroffen als wir alle. Jedes Mal wenn Jesus jemanden mit der Sündenvergebung heimsandte, dann sagte er damit auch, dass er den Preis dieser Sünde in seinem Leiden tragen wird! Deswegen schickt Jesus die Sünder auch nicht mit einer leichtfertigen Vergebung von sich, sondern mit dem Hinweis “hinfort nicht mehr zu sündigen”. Zu Vergeben bedeutet nicht, dass Sünde und Nicht-Sünde einerlei sei.
- “Vergeben” ist nicht gleich “Vergessen”: Ich denke die Formel, “Vergeben gleich Vergessen” sei, ist falsch. Sie verstößt gegen Gottes Wort, dass wir nicht Böses gut und Gutes Böse nennen, Schwarz als Weiß und Weiß als Schwarz bezeichnen dürfen. Nein, was falsch ist, bleibt auch wenn ich es vergebe, falsch. Deswegen ist Vergeben nicht gleich Vergessen. Versucht euch mal einzureden “etwas zu vergessen” Das ist eine reine Unmöglichkeit! Und doch ist es diese Aussage nicht allzu weit Weg von einer biblischen Wahrheit entfernt, dass wenn Gott unsere Sünden vergibt “er ihrer nicht mehr gedenken will” (Ich gestehe, dass ich diese Überlegung von Jay Adams habe). So ganz blicke ich hier noch nicht durch, aber ich beobachte, dass ich sehr genau spüre, wenn ich von vergangenen negativen Erfahrungen berichte, ob ich diese mit der Gelassenheit, sie aus Gottes Hand genommen zu haben, berichten kann oder nicht.
- Vergebung ist nicht das Gleiche wie Versöhnung: Schuld zerstört Beziehungen. Nicht alle werden wieder heil! Zerstörte Beziehungen schmerzen furchtbar. Und doch sind zerstörte Beziehungen nicht das Gleiche wie mein Problem zu vergeben. Auch dort wo Vergebung stattfand, gab es nicht immer Versöhnung. Und auch nach mancher Versöhnung blieb dennoch ein Bruch in der Beziehung.
Ich habe nun über Vergebung so schrieben als wäre es “nicht wie Etwas”. Natürlich ist Vergebung vor allem “Etwas”. So lehrte uns Jesus auch beten: “Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern!”.